In mikrophysiologischen Systemen lassen sich Tumor-Gewebeschnitte kultivieren. Damit soll es Forschern nun gelingen, wichtige Fragen zur Krankheitsentstehung zu klären.
Jährlich erkranken etwa eine halbe Million Menschen in Deutschland an Krebs. Trotz der Existenz effektiver Therapiemöglichkeiten für viele Krebsarten bleiben zahlreiche Fragen zur Krankheitsentwicklung unbeantwortet. Warum entsteht ein Tumor? Welche Faktoren begünstigen das Wachstum von Krebszellen? Weshalb breiten sich Metastasen im Laufe der Zeit auf weitere Organe aus? Die bislang hauptsächlich verwendeten Tiermodelle bilden die tatsächlichen Abläufe im menschlichen Körper nur begrenzt ab. Das Fraunhofer-Institut für Werkstoff- und Strahltechnik IWS in Dresden hat in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Experimentelle Medizin ITEM in Hannover sowie der Universität Regensburg spezielle Mikrosysteme entwickelt. Darin untersuchen sie nun Gewebeschnitte von Tumoren unter realitätsnahen Bedingungen.
Mikrophysiologische Systeme in der Größe einer Tablettenschachtel entwickelt das Fraunhofer IWS bereits seit mehreren Jahren erfolgreich. Damit lassen sich Organfunktionen oder auch Krankheitsprozesse mithilfe von Zellkulturen künstlich darstellen, Erkrankungen außerhalb des Organismus, also ex vivo, erforschen und Medikamente testen. „Wir schichten dafür mehrere Lagen Kunststofffolie übereinander“, erklärt Stephan Behrens, Entwicklungsingenieur am Fraunhofer IWS. Zunächst kommen Laser zum Einsatz, um diese zu strukturieren. Es entstehen Kanäle und Kammern, Pumpen und Ventile. Damit werden bestimmte Vorgänge im menschlichen Körper modellhaft abgebildet. In den mikrophysiologischen Systemen zirkuliert eine blutähnliche Flüssigkeit, die Zellen mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt. Eine neue Herausforderung in einem interdisziplinären Projekt bestand darin, in mikrophysiologischen Systemen die Metastasierung von Tumoren zu untersuchen.
Mit diesem Wunsch trat Prof. Christoph Klein, Lehrstuhl für Experimentelle Medizin und Therapieverfahren an der Universität Regensburg und Leiter des Bereichs Personalisierte Tumortherapie am Fraunhofer ITEM, an das Fraunhofer IWS heran. Gemeinsam mit der Universität Erlangen-Nürnberg hatte die Deutsche Forschungsgemeinschaft den Regensburgern 2020 einen Sonderforschungsbereich bewilligt. Dessen Ziel ist es, aufzudecken, wie genau Metastasen die Organe besiedeln.
„Um dies untersuchen zu können, war es für uns wichtig, mehrere Tumorgewebeschnitte in unser mikrophysiologisches System zu integrieren“, sagt Florian Schmieder, Gruppenleiter am Fraunhofer IWS. Erstmals weltweit sei das in diesem Projekt gelungen. Bis zu zehn Gewebeschnitte können nun parallel auf einem Chip kultiviert werden. Das Team am Fraunhofer IWS realisierte zusätzlich Öffnungen, an denen es zu jeder Zeit Proben zur Untersuchung entnehmen kann. „Außerdem lassen sich wichtige Parameter wie der CO2-Gehalt, der pH-Wert oder die Sauerstoffkonzentration kontinuierlich messen“, führt Schmieder weiter aus. „Die dafür verwendeten Sensoren messen direkt im mikrophysiologischen System und lassen sich für weitere Untersuchungen wiederverwenden.“
Ihr Wissen rund um die Gewebeschnitte brachten die Experten des Fraunhofer ITEM ein. Sie setzten dafür feinste Schnitte aus Lungengewebe ein, erklärt Prof. Armin Braun, am Fraunhofer ITEM Bereichsleiter Präklinische Pharmakologie und Toxikologie. „Bei der Operation eines Patienten mit einem Lungentumor wird nicht nur der Tumor selbst, sondern auch gesundes Gewebe entnommen.“ Ein mit einer oszillierenden Rasierklinge ausgestattetes Vibratom erzeugt aus diesen Proben hauchdünne Scheiben mit einer Dicke von 350 Mikrometern und einem Durchmesser von ca. einem Zentimeter. Diese seien immer noch gut mit Nährstoffen versorgt. Aufgebracht auf den Chip blieben die Gewebeschnitte im mikrophysiologischen System über eine längere Zeit vital und funktional. „Wir können somit die Interaktion des humanen Immunsystems mit dem Tumor beobachten“, fügt Braun hinzu. Alle relevanten Immunzellen seien bereits im Schnitt vorhanden. „Damit sind wir sehr nah am realen System, viel näher als das mit Tiermodellen möglich wäre.“
Wie also entwickelt sich der Krebs genau und wie breitet er sich im Körper aus? Ein wichtiger Punkt dabei: Der Stoffwechsel im Tumor unterscheidet sich von dem in Normalgewebe. „Für Mediziner ist es wichtig untersuchen zu können, welche Bedingungen in einem Organ Metastasen anlocken“, erklärt Florian Schmieder. Hohe Sauerstoffkonzentrationen und der pH-Wert seien dafür ausschlaggebend. Diese Umgebungsbedingungen wollen die Forscher am Fraunhofer IWS in Zukunft noch effektiver in den Mikrosystemen einstellen. „Bisher können wir beispielsweise den Sauerstoffgehalt im kompletten System verändern“, erläutert er weiter. Eine Herausforderung sei es nun, unterschiedliche Sauerstoff-Konzentrationen auf einem Chip zu ermöglichen, um die Reaktion der Tumorzellen und Metastasen darauf zu beobachten.
Ideal wäre es, wenn sich mehrere Gewebearten eines Patienten kombinieren ließen. „Solche Proben gibt es in der Realität aber äußerst selten“, führt Schmieder aus. Möglich sei es aber, Blutproben und Gewebe des gleichen Patienten im System zusammenzubringen. In Kombination mit den verschiedenen Sensoren ergibt sich so ein Mehrwert, der bisher über andere Verfahren nicht erreichbar ist. Damit lässt sich die Technologie auch als sinnvolle Alternative zu bisherigen Tierversuchen einsetzen. Komplett auf Tiermodelle verzichten könne die Forschung vorerst aber leider noch nicht.Parallel arbeitet das 15-köpfige Team des Fraunhofer IWS auch an Projekten, die den Einsatz von Gewebeschnitten für andere Erkrankungen testen. Ein Beispiel ist die Fibrose. Dabei findet eine veränderte Reaktion des Immunsystems mit dem Gewebe statt, das daraufhin krankhaft verhärtet und seine Funktion teilweise verliert. Diese Vorgänge schränken die Funktion von Geweben und Organen ein. „Wir arbeiten im Fraunhofer-internen Projekt FIBROPATHS an dieser Fragestellung“, sagt Schmieder. Es sei zu klären, welche spezifischen Systeme die einzelnen Gewebe im Minilabor brauchen, um sie länger kultivieren zu können.
Die bisherigen Ergebnisse zur Erforschung des Tumorwachstums und der Metastasenbildung mithilfe der mikrophysiologischen Systeme stimmen Prof. Christoph Klein positiv. „Wenn wir Erkrankungen untersuchen möchten, ist das eine neue sehr interessante Möglichkeit, die sich uns bietet“, sagt der Mediziner. „Die Metastasierung umfänglich zu verstehen, ist ein Schlüssel für neue Therapieverfahren, welche die spätere Bildung von Metastasen im Körper von Krebspatienten verhindern“. Florian Schmieder sieht in der Technologie großes Potenzial für die Zukunft: „Wir werden bei unseren Systemen immer modularer.“ Verschiedene Bausteine könnten künftig neu kombiniert werden, um die unterschiedlichsten wissenschaftlichen Fragestellungen zu klären.
Dieser Artikel basiert auf einer Pressemitteilung des Fraunhofer-Instituts für Werkstoff- und Strahltechnik IWS.
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