Altfragen, die Sitzposition im Hörsaal und spezifische Hinweise der Lehrenden sind für die meisten Medizinstudenten die entscheidenden Faktoren für den Erfolg bei einer Klausur. Ein folgenschwerer Fehler, wie unser Autor findet.
Gut 100 Klausuren schreibt der gemeine Mediziner im Laufe seines Studiums. Klausuren, die in ihrer Gesamtheit einen umfassenden Wissensschatz überprüfen sollen, der einen am Ende für die Behandlung von Tausenden von Patienten qualifiziert. Vor kurzem wurde mein mikrobiologisches Wissen abgefragt: 50 MC-Fragen zur Hygiene, Mibi, Immunologie und Virologie. Die Lehrenden bereiteten mich sehr unterschiedlich auf diese Klausur vor: Der Hygiene-Professor (Zitat „Wir wollen es Ihnen und uns ja nicht so schwer machen.“) markierte 10 Stichpunkte in seiner Repetitoriumsvorlesung rot und kündigte an, dass damit die 10 Hygiene-Fragen zu beantworten seien. Die Mibi wählte eine subtilere Lernstrategie. In den letzten zwei Praktikumstagen häuften sich mündliche, zusammenhangslose Hinweise für die Klausur, wie „Malaria niemals mit Metronidazol behandeln, sonst könnt ihr alles ankreuzen“ oder „Der Toxoplasmoseerreger ist Toxoplasma gondii und nichts, was so ähnlich klingt.“ Anders die Immunologie, welche sich seit 2011 überhaupt nicht mehr die Mühe machte, neue Fragen für die Klausur zu erstellen. Kurzum: Zur eigentlichen Klausur waren quasi alle Fragen bekannt. Aber damit nicht genug. Ich schrieb mit 350 Studierenden in einem viel zu kleinen Hörsaal, in dem wir auf den meisten Plätzen weder nach vorn noch zu den Seiten Abstände hatten. Die Folge: Schwarmintelligenz. Doch selbst den offensichtlichen Betrugsversuchen wurden nur süffisante Kommentare des Profs wie „das Vergleichen mit ihrem Nachbarn übernehmen wir schon für Sie" entgegnet. Ein Einzelfall? Wohl kaum. So wurde in der Wiederholungsklausur in der Mibi nur eine einzige Klausur von 20 Studierenden schlechter als 1 bewertet. Die Leipziger Gynäkologie-Klausuren haben seit Jahren einen Schnitt von 1,3 und besser. Ebenfalls hervorragende Noten entstehen jedes Jahr in der Sozialmedizin. Also ein Leipziger Problem? Auch eher nicht. Denn warum sonst erfreuen sich Kreuztools für Altklausuren wie kreuzmich so großer Beliebtheit?
Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Ich gönne jedem Kommilitonen gute Noten sowie eine bestandene Prüfung. Ich kann auch jeden Studierenden verstehen, der dankbar für jede Erleichterung der Klausur ist. Dennoch will ich fragen, warum es nötig ist, dass PJler, Praktikumsassistenten, MTAs oder Profs Fragen und Antworten der Klausur weitergeben und Studierende sich schon Stunden vor Klausurbeginn im Hörsaal die besten Plätze sichern – um voneinander abzuschreiben. Aus meiner Sicht liegt die Ursache bei einer schlechten Lehre und schlechten Klausuren: Bis zu 15 Jahre alte Vorlesungen beziehen sich nicht auf Grundlagenwissen, sondern auf nebensächliche Details. Es wird den „Medizinern von morgen“ aufgrund des enormen Wissenszuwachses in diesem Fach immer mehr in einer immer kürzeren Zeit beigebracht, Schwerpunkte werden nur selten gesetzt. Gleichzeitig ist für viele Profs eine statistische Auswertung ihrer Klausurfragen zum Beispiel nach Trennschärfe oder allgemeinen Testgütekriterien wie Validität, Objektivität und Reliabilität noch Neuland. Selbst mit dem Berechnen des Notendurchschnitts, welcher bei Werten von 3,9 oder 1,1 Hinweise auf Fehler in der Vorbereitung oder der eigentlichen Klausur geben kann, fühlen sich einige Lehrende überfordert. So werden in vielen medizinischen Klausuren vollkommen überzogen Detailfragen gestellt, welche viele Studierende dann nur noch in oben erwähnter Schwarmintelligenz lösen können.
Welche Folge erwächst aus einer solch inadäquaten Wissensüberprüfung der Studierenden? Eigentlich sind doch alle glücklich, oder? Die Studierenden glauben, etwas gelernt zu haben und kommen in ihrem Studium weiter. Die Lehrenden glauben, etwas gelehrt zu haben. Die Tatsache, dass wir uns dabei eigentlich alle selbst betrügen, rückt leicht in den Hintergrund. Schlimm wird es aber dann, wenn unter unseren Patienten die Prüfungskultur an vielen medizinischen Fakultäten in Deutschland bekannt wird. Sie werden das Vertrauen in ihre zukünftigen Ärzte verlieren. Noch schlimmer wird es, wenn durch schlechter qualifizierte Ärzte Fehler geschehen, die vermeidbar gewesen wären: In unserer Branche geht dann kein Paket verloren oder eine Maschine kaputt – es sterben Menschen. Daher möchte ich mich der Forderung der bvmd an die Lehrenden der medizinischen Fakultäten nach einer kompetenzorientierten Lehre und den Testgütekritierien genügenden Prüfungen anschließen. Erstere könnte zum Beispiel durch eine flächendeckende Anwendung des Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalogs umgesetzt werden. Klausuren könnten durch die, an manchen Unis bereits angewendete 18-6-6-Regel fairer werden: 18 Fragen, also die Bestehensgrenze, können allein durch das Grundlagenwissen aus der Vorlesung beantwortet werden; 6 Fragen durch weiterführendes Wissen aus der Vorlesung und weitere 6 Fragen durch Spezialwissen, welches nicht in der Vorlesung Erwähnung gefunden hat. Auch die Einführung eines Progresstests, ein regelmäßiger, interdisziplinärer Wissenstest über das Wissen eines Arztes an seinem ersten Berufstag, könnte zu einer verbesserten Wissensüberprüfung und damit qualitativ höherwertigen Ausbildung zum Arzt führen.
Abschließend möchte ich auch die Studierenden nicht aus der Verantwortung nehmen: Jeder Einzelne muss selbst die Lehre und die Prüfungen einfordern, die er braucht, um das zu werden, wonach wir eigentlich alle streben: Ein guter Arzt.