Das längst überfällige Disease Management Programm Adipositas landet bald in der Versorgung. Der Start einer Erfolgsstory? Experten haben da noch so einiges zu beanstanden.
Das neue Disease Management Programm (DMP) Adipositas ist für Ärzte nun zum Greifen nahe; es gilt als längst überfälliger Schritt in Deutschland. In das Programm einschreiben können sich Erwachsene mit einem Body-Mass-Index (BMI) ab 30. Noch ist es nicht in der Versorgung angekommen – es sorgt aber im Vorfeld nicht nur unter Ärzten für heftige Diskussionen. Ziel ist es, endlich ein strukturiertes Behandlungsprogramm bei Erwachsenen mit Adipositas zu schaffen. Aber kann das gelingen?
Dr. Dirk Janssen, Vorstand beim BKK-Landesverband Nordwest, zeigt sich noch skeptisch: „Der Beschluss des G-BA ist zwar super, von einem Erfolgsmodell kann man beim DMP aber nicht sprechen”, erklärte er. Denn das alte Kernproblem bleibe: In Deutschland werden Krankheiten erst angegangen, wenn sie repariert werden müssen. „Mit dem DMP setzen wir relativ spät ein” – zu spät, wie er findet. Er würde sich eher ein „Prä-DMP” wünschen.
Prof. Christine Joisten, Leiterin der Abteilung Bewegungs- und Gesundheitsförderung an der Sporthochschule Köln, stört sich an den Teilnahmekriterien: „Ich finde es schwierig, dass es einer Komorbidität bedarf”, kritisierte sie. Um an dem Programm teilzunehmen, müssen Menschen mit einem BMI zwischen 30 und 35 zusätzlich mindestens eine Begleiterkrankung wie Bluthochdruck oder Diabestes Typ 2 haben. Immerhin ab einem BMI von 35 müssen keine weiteren Begleiterkrankungen vorliegen, um beim DMP dabei zu sein.
Weiterer Kritikpunkt: Der Fokus des DMP liegt zwar auf der konservativen Therapie. Einen Fahrplan brauche es aber auch für die postoperative Nachsorge nach chirurgischen Eingriffen bei Adipositas-Patienten, fordert Fabian Demmelhuber von der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns. Denn eine strukturierte Nachbehandlung existiere bislang nicht – diese sei aber für den langfristigen Erfolg nach bariatrischen Operationen enorm wichtig. Er lieferte Ideen, wie es künftig besser laufen kann.
Große Erfolge habe es in Bayern mit dem Förderprojekt „ACHT – Adipositas Care & Health Therapy” gegeben. Das Konzept ist ein digital gestütztes, strukturiertes, sektorenübergreifendes und wohnortnahes Nachsorgeprogramm. Dabei spielen Adipositas-Lotsen eine wichtige Rolle: Sie koordinieren den Nachsorgeprozess und behalten Therapieziele im Blick. Eine digitale Fallakte verknüpft Patienten, Lotsen, niedergelassene Ärzte und Adipositas-Zentren miteinander. Individuelle Bewegungsziele, Ernährungsberatungen und eine psychologische Begleitung waren ebenfalls Bestandteil. Ende April sollen die Ergebnisse beim G-BA eingereicht werden. Er wünscht sich, dass diese dann in die Diskussion um die DMP einfließen.
Rückenwind bekommt er von Carsten König, Vorstand bei der KV Nordrhein. Für ihn bringt das DMP in der jetzigen Form verschiedene Notwendigkeiten nicht zusammen. „Wenn ich eine OP habe und den Rest soll der Hausarzt übernehmen, der das aber nicht kann, weil er keine Zeit dafür hat”, sei der ganze Vorgang wenig sinnvoll. Auch pädiatrische und fachärztliche Kompetenzen müssten im DMP zusammen verhandelt werden, sonst „schaffen wir es nicht”.
Allgemeinmediziner sorgen sich hingegen um eine noch höhere Arbeitsbelastung: „Der Aufwand für den das alles ‚koordinierenden‘ Hausarzt wird riesig sein. Bei der derzeitigen Situation in den Praxen gebe ich dem DMP Adipositas nur geringe Überlebenschancen. Auch die Anforderungen für die Betroffenen sind hoch und ziemlich komplex. Wer wird das durchhalten? Es ist ja jetzt schon schwierig, die Patienten bei den relativ einfach zu bewältigenden DMP KHK oder Diabetes mellitus Typ 2 bei der Stange zu halten! Ich würde mal sagen: Das wird nix …”, so das Urteil von DocCheck-User und Arzt Philipp Schlitt unter einem Beitrag zu dem Thema.
Nicht selten kämen Adipositas-Patienten frustriert aus der Sprechstunde hausärztlicher Praxen, erklärte Christel Moll, Vorsitzende des Adipositas Verband Deutschland e.V. „Wir sind sehr froh, dass es jetzt neue Medikamente gibt. Allerdings ist die medikamentöse Therapie nicht in den Praxen angekommen – oder noch nicht”, so ihr Eindruck. Niedergelassene hätten zu wenig Zeit, sich in den Bereich einzuarbeiten und trauten sich noch nicht so recht an GLP-1-Rezeptoragonisten ran. „Dann kommen Menschen in unsere Selbsthilfegruppen und sagen ‚Mir konnte wieder nicht geholfen werden‘”. Sie fordert, dass Niedergelassene sich genau jetzt die Zeit dafür nehmen – auch wenn ihre Praxen aktuell in vielen Bereichen brennen. „Wenn der Arzt sich jetzt die Zeit dafür nimmt, braucht er sie später zumindest nicht für Folgeerkrankungen.”
Bis das DMP Adipositas seinen Platz im Praxisalltag finden kann, wird noch etwas Zeit vergehen. Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) hat den Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zu dem DMP zum 1. April 2024 freigegeben. Aktuell werden weitere Details in den regionalen Verträgen, beispielsweise zu Schulungsprogrammen, noch geregelt – dann können die Krankenkassen mit Praxen und Kliniken Verträge zum DMP aushandeln.
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