KOMMENTAR | Yoga, Ernährung und Lebensphilosophie – Ayurveda erfreut sich großer Beliebtheit. In der Apotheke werde ich regelmäßig dazu befragt. Ein kritischer Blick auf den Nutzen.
In einer Welt, in der die moderne Medizin fast schon Wunder vollbringt, gibt es eine jahrtausendealte Heilkunst, die auch hierzulande immer wieder sanft an den Grundfesten der konventionellen Heilmethoden rüttelt: Ayurveda. Das aus Indien stammende System der Gesundheitspflege steht immer wieder im Zentrum von Debatten unter Medizinern und Gesundheitsexperten weltweit. Ist Ayurveda nun eine bereichernde Ergänzung zur Schulmedizin oder eher ein Relikt aus einer Zeit, in der die Grenzen zwischen Wissenschaft und Spiritualität noch verschwommen waren?
Während einige die holistischen Ansätze des Ayurveda als Schlüssel zu einer tieferen, ganzheitlichen Gesundheit schätzen, zucken andere nur skeptisch mit den Schultern und fragen nach dem wissenschaftlichen Beweis. Doch egal, auf welcher Seite der Diskussion man steht, eines ist unbestreitbar: Das Interesse an alternativen Heilmethoden und die Suche nach Ergänzungen zur klassischen Medizin nehmen zu – das bemerken wir nicht nur in der Apothekenwelt. Ich möchte deshalb einen kurzen und kritischen Blick auf Ayurveda werfen, auf die Methoden, die dahinterstehenden Philosophien und die daraus resultierende Kritik aus der modernen Pharmazie.
Ayurveda, das „Wissen vom Leben“, bietet einen tiefgreifenden Ansatz zur Erhaltung der Gesundheit und zur Behandlung von Krankheiten, der auf jahrtausendealtem Erfahrungswissen basiert. Die traditionelle indische Naturheilkunde, die in ihrem Ursprungsland auch akademisch gelehrt wird, erfreut sich auch im Westen zunehmender Anerkennung. Im Kern zielt Ayurveda darauf ab, das Gleichgewicht zwischen Körper, Geist und Seele zu fördern und aufrechtzuerhalten. Für Mediziner und Apotheker könnte Ayurveda interessante Perspektiven bieten, insbesondere im Bereich der Prävention sowie der ganzheitlichen Behandlung von chronischen Zuständen.
Im Ayurveda wird Gesundheit als „Svastha“ beschrieben, was „im Selbst verweilen“ bedeutet. Dieser Zustand ist nicht allein durch die Abwesenheit von Krankheit definiert, sondern vielmehr durch ein harmonisches Gleichgewicht der drei grundlegenden Funktionsprinzipien (Doshas) – Vata, Pitta und Kapha. Ein gesunder Mensch zeichnet sich zudem durch ein starkes Verdauungsfeuer (Agni), die Reinheit der körperlichen Gewebe (Dhatus) und die effiziente Ausscheidung von Abfallprodukten (Malas) aus. Zentral ist auch das Wohlbefinden der Sinne, des Geistes und der Seele. Ayurveda betont die individuelle Konstitution eines jeden Menschen, die von den Doshas bestimmt wird. Eine auf das individuelle Dosha abgestimmte Ernährung, der Tagesrhythmus und die Lebensweise sind entscheidend für die Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit.
Krankheiten werden im Ayurveda als Ungleichgewicht oder Störung der Doshas verstanden. Ebenso spielt das Konzept von „Ama“, den Toxinen, die durch unvollständige Verdauungs- oder Stoffwechselprozesse entstehen, eine zentrale Rolle. Diese Toxine können sich im Körper ansammeln und werden oft als Grundlage für die Entwicklung von Krankheiten gesehen. Ayurveda identifiziert die Ursache vieler Krankheiten zudem in einer unzuträglichen Lebensweise und Ernährung, die nicht zur individuellen Konstitution passt oder das innere Gleichgewicht stört. Folglich zielen ayurvedische Behandlungen darauf ab, die ursprüngliche Konstitution wiederherzustellen, das Verdauungsfeuer zu stärken und Ama zu reduzieren, um die natürliche Ordnung wiederherzustellen.
Die ayurvedische Therapie ist vielschichtig und reicht von Ernährungsanpassungen über pflanzliche Medikation (Dravyaguna), Yoga und Meditation, bis hin zu Ausleitungs- und Reinigungsverfahren (Panchakarma). Besonderer Wert wird auf präventive Maßnahmen gelegt, die das Gleichgewicht der Doshas unterstützen und Ama-Bildung vermeiden. Für Ärzte und Apotheker bietet Ayurveda interessante Ansätze, insbesondere bei der Behandlung und Prävention chronischer Krankheiten. Die Integration ayurvedischer Prinzipien kann die Patientenversorgung bereichern, indem sie die Bedeutung einer individuell abgestimmten Ernährung, eines ausgewogenen Lebensstils und ganzheitlicher Therapieansätze hervorhebt.
Natürlich bringen skeptische Ärzte oder Apotheker verschiedene Einwände gegen Ayurveda als Heilmethode vor, die sich größtenteils aus der Perspektive der evidenzbasierten Medizin und den Unterschieden in den methodischen Ansätzen ergeben:
Einer der Hauptkritikpunkte betrifft den Mangel an evidenzbasierten wissenschaftlichen Studien, die die Wirksamkeit ayurvedischer Behandlungen nach westlichen Standards der evidenzbasierten Medizin belegen. Skeptiker betonen die Notwendigkeit randomisierter, kontrollierter Studien, um die Sicherheit und Wirksamkeit ayurvedischer Praktiken zu verifizieren.
Die Sorge um die Standardisierung und Qualität von ayurvedischen Produkten ist ein weiterer Kritikpunkt. Die Zusammensetzung pflanzlicher Präparate kann variieren, was zu Schwankungen in der Wirksamkeit und Sicherheit führt. Zudem gibt es Bedenken hinsichtlich der Reinheit der Inhaltsstoffe und der Möglichkeit von Kontaminationen mit Schwermetallen oder anderen schädlichen Substanzen.
Das Risiko von Wechselwirkungen zwischen ayurvedischen Präparaten und konventionellen Medikamenten ist eine berechtigte Sorge, besonders bei Patienten, die gleichzeitig unterschiedliche Behandlungsformen in Anspruch nehmen. Solche Interaktionen könnten die Wirksamkeit von Medikamenten beeinträchtigen oder unerwünschte Nebenwirkungen verursachen.
Einige medizinische Fachkräfte äußern Bedenken hinsichtlich der diagnostischen Methoden im Ayurveda, die sich stark von denen der westlichen Medizin unterscheiden. Sie argumentieren, dass ohne die Nutzung moderner Diagnosewerkzeuge bestimmte Krankheiten möglicherweise nicht genau identifiziert oder ihr Schweregrad falsch eingeschätzt werden könnte.
Während die Prävention ein Kernaspekt des Ayurveda ist, befürchten einige, dass eine zu starke Fokussierung auf präventive Ansätze dazu führen könnte, dass akute oder schwerwiegende Erkrankungen nicht mit der notwendigen Dringlichkeit behandelt werden.
Die philosophischen Grundlagen des Ayurveda, die eng mit indischen spirituellen Traditionen verknüpft sind, können für einige Menschen, die im medizinischen Bereich tätig sind, schwer zu akzeptieren sein. Skeptiker argumentieren zuweilen, dass diese philosophischen Aspekte mit dem wissenschaftlichen Rationalismus und der Empirie der modernen Medizin unvereinbar sind.
In vielen Ländern gibt es keine strenge regulatorische Aufsicht über ayurvedische Praktiken und Produkte, was Fragen bezüglich der Legalität, Sicherheit und beruflichen Zuständigkeit aufwirft.
Trotz dieser Bedenken findet Ayurveda weiterhin weltweit Anhänger, und es gibt eine wachsende Anzahl von Studien, die sich mit seinen Prinzipien und Anwendungen beschäftigen – wenn bislang die wissenschaftliche Evidenz für eine Wirksamkeit von Ayurveda noch schwach ist. Neben typischen Ayurveda-Gesundheitszentren nutzen zum Teil aber auch „schulmedizinische“ Krankenhäuser Ayurveda zur Behandlung von Patienten – mit wachsenden Erfolgen, beispielsweise als Zusatztherapie für Fibromyalgie-Patienten.
Ein integrativer Ansatz, der das Beste aus beiden Welten – der traditionellen Weisheit des Ayurveda und der evidenzbasierten westlichen Medizin – vereint, könnte der Schlüssel zu einer umfassenderen und individuelleren Patientenversorgung sein. Das ayurvedische Verständnis von Gesundheit und Krankheit eröffnet eine ganzheitliche Perspektive, die über die symptomatische Behandlung hinausgeht und die individuelle Konstitution und Lebensweise des Patienten in den Mittelpunkt stellt. Für das medizinische Fachpersonal könnte Ayurveda meiner Meinung nach eine ergänzende Sichtweise bieten, die das Potenzial hat, die konventionelle Medizin sinnvoll zu erweitern und die Patientenversorgung auf eine breitere, individuellere Basis zu stellen.
Quellen
Ministry of Ayush,Government of India.
https://www.ayurveda-verband.eu
Empfehlungen zur Ayurvedischen Medizin (dgrh.de)
Kumar, S. & Saha F. (2022, Januar 11). „Behandlung des Fibromyalgiesyndrom mit Traditioneller Indischer Medizin (TIM) - Ayurveda.“ Deutsche Zeitschrift für Akupunktur, S. 28-30.
Fibromyalgiesyndrom - Naturheilkunde Berlin – Ayurveda, TCM, TEM (immanuel.de)
Ergänzende Literatur
Schrott, E. (2003). Ayurveda. Das Geheimnis Ihres Types. Wilhelm Goldmann Verlag.
Gupta, H.H., Kessler C.S. & Chopra A.S. (2021). „Gesundheit aus Sicht des Ayurveda.“
Thums, U. (2020). Übersicht über naturmedizinische Heilverfahren. DIPLOMA Private Hochschulgesellschaft mbH
Bildquelle: Katherine Hanlon, Unsplash