Liebe Ärzte, läufts in der Diabetologie so schlecht, dass ihr euren Patienten Diagnosen andichten müsst? Dieser Eindruck ist zumindest bei mir als Betroffene entstanden. Ein persönlicher Fallbericht.
Als ich an jenem Morgen zum routinemäßigen oGTT in der diabetologischen Schwerpunktpraxis ankam, war ich guter Dinge. Der Test ist Bestandteil der Mutterschaftsrichtlinien, Goldstandard in der Diagnostik und ich hatte weder Beschwerden noch Risikofaktoren. Was sollte schon rauskommen? Dann die Diagnose wie ein Schlag ins Gesicht: 2-Stunden-Wert erhöht, pathologischer Befund, Gestationsdiabetes. Die Ärztin würde das Ergebnis jetzt mit mir besprechen, meinte eine der Helferinnen.
Im Sprechzimmer ging’s dann erst richtig los: Risikoschwangerschaft, makrosomes Kind, Fehlentwicklungen, lebenslang erhöhtes Diabetesrisiko, Termingeburt, Kaiserschnitt – all diese Schreckgespenster flogen plötzlich durch den Raum, heraufbeschworen von der Ärztin, die da völlig ausdruckslos vor mir saß. „Aber ich ernähre mich schon immer ausgewogen … ich hatte nie Gewichtsprobleme … es bestehen keine Risikofaktoren und dem Kind geht’s auch gut …“, stammelte ich mich durch das Gespräch. Der Wert sei aber der Wert – und ich hätte doch sicher schon Probleme gehabt, mit Übelkeit und zu wenig Fruchtwasser und das Kind sei doch sicher zu groß? „Nein, nichts davon“, konnte ich mich nur wiederholen. Meine Schwangerschaft war bisher wie im Lehrbuch verlaufen, im Rahmen der Pränataldiagnostik war nie etwas aufgefallen. Das dokumentierte übrigens auch mein Mutterpass, der aufgeschlagen vor der Ärztin lag – den sie aber offenbar nicht angeschaut hatte.
An dieser Stelle einmal kurz zum Patientenbild, dass ich bot: Bei 178 cm Körpergröße wog ich vor der Schwangerschaft 68 Kilogramm und zum Zeitpunkt des Tests, der 25. SSW, knapp 6 Kilo mehr. Abgesehen von einer latenten genetischen Vorbelastung bestanden keine der abgefragten Risikofaktoren (z. B. Übergewicht, vorangegangene Fehlgeburten, makrosome Kinder, Alter über 35 Jahre). Seit Jahren führe ich ein Ernährungs- und Sporttagebuch, nutze Fitnesstracker und gehe brav zu den gängigen Vorsorgeuntersuchungen.
Ich warf ein, dass ich die letzten beiden Wochen bettlägerig war und wegen eines Atemwegsinfekts keinen Sport gemacht hatte. Ob das die Ergebnisse beeinflussen könnte? „Kann schon sein, dass Sie durch Ihren Sport sonst mehr Zucker verbrennen, aber der Wert ist ja nun da. Aber das kriegen wir mit einer Ernährungsumstellung und mehr Bewegung wieder hin. Nur eine von vier Schwangeren muss Insulin nehmen“, so die Ärztin. Mein Einwand, dass ich mich schon vor der Schwangerschaft sozusagen strenger als die DGE erlaubt ernährt habe und ich nicht wüsste, wo ich da noch ansetzen soll, wurde weggewischt. Stattdessen hielt sie mir Tabellen über Insulingspiegel unter die Nase. Meine Schwangerschaft würde ab sofort engmaschig gemonitored werden müssen: alle zwei Wochen Beratungstermine beim Diabetologen und erweitertes Screening beim Gynäkologen, außerdem ständiger Austausch von Befunden und ein umfassender Geburtsbericht. Die Geburt würde dann wohl eingeleitet oder direkt per Kaiserschnitt erfolgen. Gedanklich verabschiedete ich mich also von meinem Plan, im Hebammenkreißsaal zu entbinden, bye-bye, interventionsarme Geburt. Bitte sehr, die Ernährungsberatung würde dann jetzt nebenan erfolgen.
„Lassen Sie einfach mal den Zucker im Kaffee weg, Sie werden staunen, was das alleine schon ausmacht.“ Aha. Dass ich in der Schwangerschaft auf Kaffee grundsätzlich verzichte und auch davon abgesehen meine Getränke nicht süße, interessierte nicht. Bei der Einweisung ins Blutzuckermessgerät dann der nächste heiße Tipp: „Sie dürfen schon weiter Ihre Schokolade essen, aber bitte keine Tafeln mehr am Stück.“ Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals eine Tafel am Stück gegessen zu haben und eine Praline zum gelegentlichen Nachmittagsespresso ist für mich schon Luxus – den ich mir seit der Schwangerschaft noch seltener gönne. Auch die anderen Empfehlungen (Vollkorn- statt Weißmehlprodukte, Obst in Maßen und Gemüse in Massen) waren weder neu noch Geheimtipps. Schön dagegen die Info: „Fetthaltige Produkte können Sie bedenkenlos zu sich nehmen. Also Butter, Schmalz, Speck, Sahne und so weiter. Die sind alle safe.“ Wie gesund! Mit dem Auftrag, im 4-Punkte-Muster zu messen (nüchtern sowie je nach den drei Hauptmahlzeiten) verließ ich dann die Praxis.
Ich rief meine Hausärztin an, um die Werte zu besprechen. Vor allem mein Hba1c-Wert ließ sie aufhorchen: 4,5 % – das passte nicht zur Diabetesdiagnose. Sie ist Internistin, kennt mich gut und betreut mich seit Jahren. Dass ich nicht dem Risikoprofil eines Diabetikers entspreche, musste ich ihr nicht erklären. Da müsse etwas schiefgelaufen sein und ich solle den Test wiederholen lassen. Mein Gynäkologe bestätigte: „Das passt nicht. Sie waren krank, sagen Sie? Normalerweise achten die darauf, das kann das Ergebnis verfälschen.“ Das ließ mich aufhorchen, denn das hatte ich ja selbst schon vermutet – und ich setzte meinen Frust in Recherchewut um.
Der oGTT sei an sich recht fehleranfällig, erfuhr ich dann. Schon Dinge wie Schlafmangel in der Nacht vor dem Test könnten vor allem den 2-Stunden-Wert teils massiv verfälschen. Check, das war bei mir der Fall gewesen – vor dem Test hatte ich nur knapp 5 Stunden geschlafen. Einer Studie zufolge sollten Ärzte Patienten vor dem Test nicht nur nach Nüchternstatus, sondern auch danach fragen, ob sie ausgeschlafen sind, also ein nicht zu unterschätzender Störfaktor. Bettlägerigkeit, Infekte und eine generell kohlehydratarme Ernährung könnten ebenfalls Einfluss nehmen. Check, Check und Check. Warum hatte mir das niemand gesagt? Im Infogespräch vorab hieß es nur, ich dürfe ab 22 Uhr am Vortag nichts mehr essen.
Mit diesem Wissen und absolut unauffälligen Messwerten gestärkt, ging ich 2 Wochen später wieder in die diabetologische Praxis, zur „Diabetikersprechstunde“ (hallo, Schublade – ich möchte hier raus). Die mit der Situation überforderte Ernährungsberaterin holte auf meine Fragen hin die Ärztin vom letzten Mal dazu – die sich wenig einsichtig zeigte. „Den Wert hab ich mir nicht ausgedacht, der ist nun mal da. Das ist ein Fakt.“ Dass mein Infekt, die anderen Störfaktoren, mein nicht vorhandenes Risikoprofil, mein niedriger Hba1c und meine unauffälligen Messungen ebenfalls Fakten seien, ließ sie nicht gelten. Der Hba1c könne auch durch meine Schwangerschaftsanämie so niedrig sein. Wie bitte, anämisch bin ich jetzt auch noch?! Wie gut, dass mein Gynäkologe und meine Hausärztin meine Eisenwerte im Blick haben und dies auch im Mutterpass dokumentieren. Klares Nein an dieser Stelle. Und wenn überhaupt – würde eine Anämie den Hba1c nicht eher falsch-hoch erscheinen lassen? „Ihr Befund ist halt pathologisch. Aber von mir aus wiederholen wir den Test.“
Das habe ich dann eine Woche später auch getan, allerdings in einer anderen Praxis, auch auf Anraten meiner Ärzte. Weiteres Highlight am Rande: Die erste Diabetologin hatte auch noch eine Hypotonie in meinem Mutterpass notiert, die zu keinem Zeitpunkt bestand – und beim Termin war nicht mal Blutdruck gemessen worden.
Um es abzukürzen: Es besteht kein GDM. Meine Werte waren absolut unauffällig (nüchtern: 86 mg/dL; 1 h: 130 mg/dL; 2 h: 93 mg/dL). Selbst wenn der erste Test valide gewesen wäre, hätte er allenfalls auf eine gestörte Glukosetoleranz hingewiesen, erfuhr ich (alte Falschwerte: nüchtern: 86 mg/dL; 1 h: 157 mg/dL; 2 h: 173 mg/dL). Auch in der neuen Praxis war man vom Vorgehen in der ersten Praxis sehr erstaunt.
Nun ja, ein Schelm, wer Arges dabei denkt, aber Pauschale ist Pauschale, oder? Man tut einer Schwangeren ja grundsätzlich nichts Schlechtes damit, sie regelmäßig ihren Blutzucker messen zu lassen und auf ihre Ernährung hinzuweisen und hat praktischerweise direkt eine neue Patientin rekrutiert. Wir basteln uns eine Diagnose, da besteht erstmal kein Interesse an einer Korrektur vermutlich falscher Ergebnisse. Anders kann ich mir auch die vielen unterschiedlichen Ansätze zum oGTT nicht erklären – in einer Praxis müssen blutzuckerverändernde Medikamente bereits 3 Tage vor Test abgesetzt werden, in einer anderen reicht es am Tag des Tests. In einer darf man ab 22 Uhr am Vortag auch kein Wasser mehr trinken, in einer anderen ist Wasser sogar während des Tests selbst erlaubt und erst ab Mitternacht darf nichts mehr gegessen werden. Einige Infoblätter empfehlen ein Carb-Loading vor dem Test, also in der Woche vorher möglichst viele Kohlehydrate zu sich zu nehmen, andere raten zur gewohnten Ernährung. Da ist einmal die Rede von Sportkarenz vor dem Test, dann wieder soll sich wie sonst auch bewegt werden. Und zur Krönung gelten in der Schweiz teilweise andere Grenzwerte als hier in Deutschland. Ach ja, weil Stress die Wirkung von Insulin hemmen könnte, solle man auch möglichst entspannt zum Test kommen.
Wenn so viele, teilweise völlig arbiträre Faktoren das Testergebnis beeinflussen können, kommt man erst recht ins Grübeln, wenn man sich die strengen Anforderungen an durchführende Praxen anschaut. Da gibt’s einiges zu beachten in Sachen Anmischen der Glukoselösung, Blutentnahme, Hemmung der Glykolyse in den Teströhrchen und auch verwendete Puffer in den Röhrchen selbst. Ich kann nicht sagen, dass mein Vertrauen in die stets korrekte Einhaltung gestärkt wurde.
Angesichts der entdeckten Fälle von echtem GDM – und damit verhinderten Fällen von Makrosomien, Fehlbildungen und Schulterdystokien unter der Geburt – nimmt man falsch-positive Fälle eben in Kauf. Schön und gut, aber ein Grund mehr, nicht nur den gemessenen Wert, sondern auch die Patientin vor sich zu berücksichtigen und, im äußersten Fall, sogar mal mit ihr zu reden. Denn die Ungewissheit, die Sorge um meine und die Gesundheit meines Kindes und das terminliche Hin und Her haben mich in den vergangenen Wochen belastet wie bisher nichts in meiner Schwangerschaft. Es kann doch nicht sein, dass man als Patientin mit so einem umwälzenden und nicht stimmigen Befund alleingelassen und einfach nach Schema F abgehandelt wird. Wären meine anderen Ärzte nicht so aufmerksam und hätte ich mich nicht ins Thema eingearbeitet und eine Wiederholung verlangt, wäre aus meiner entspannten und unkomplizierten Schwangerschaft gerade auf den letzten Meter noch ein Tanz aus de facto unnötigen Terminen und Eingriffen geworden.
Fun Fact (eher Sad Fact) dazu: In beiden Praxen wurde ich gefragt, warum der oGTT denn gemacht werde, wenn doch keine Risiken bestehen. Dass er fester Bestandteil der Mutterschaftsrichtlinien ist und somit ALLEN Schwangeren empfohlen wird, stieß beide Male auf Überraschung. Auch dass der sogenannte kleine Glukosetest von vielen Gynäkologen wegen der hohen Falsch-Negativ-Rate nicht mehr vorgeschaltet wird, verwunderte. Also vielleicht ab und zu mal in die Leitlinien gucken.
Bildquelle: Annie Spratt, Unsplash