Lisa ist eine junge, aufgeschlossene, hübsche Ärztin – also genau das, was man sich nicht unter einer Gefängnisärztin vorstellt. Wie sie das zu ihrem Vorteil nutzt und warum Gefängnisse „die geilste Medizintechnik“ haben, lest ihr hier.
Lisa und ich sind zum Videointerview verabredet. Der Klingelton schallt durch die Kopfhörer und nur wenige Momente später nimmt eine hübsche junge Frau das Gespräch an. Lisa (Name von der Redaktion geändert) begrüßt mich freundlich, wir klären noch die letzten technischen Fragen, als es plötzlich an ihrer Tür klingelt. Entschuldigend hüpft sie aus dem Bild, um zu öffnen – aber das Ganze dauert verdächtig lange. Im Hintergrund höre ich nur Rascheln und Klimpern, kaum wahrnehmbare Stimmen. Ein paar Augenblicke später ist Lisa auch schon wieder bei mir und bereit für unser Interview. „Tja, da hast du gerade einen direkten Einblick in meinen Alltag bekommen“, sagt sie. „Das dauert immer etwas, das an die Türe gehen. Da hängen drei Schlösser und noch andere Sicherheitsmaßnahmen – und natürlich muss ich sichergehen, dass derjenige wirklich der ist, für den er sich ausgibt“, erklärt sie die Situation. Lisa ist Gefängnisärztin.
44.232 – so viele Strafgefangene und Sicherheitsverwahrte gab es in Deutschland im Jahr 2023. Während diese Zahl in den Vorjahren stetig abnahm, war 2023 wieder ein Anstieg von 1.740 Personen zu verzeichnen.
Die medizinische Versorgung der Insassen ist dabei aber gleichbleibend schwierig – Stellenausschreibungen für Gefängnisärzte bleiben oft unbesetzt. Bereits Ende letzten Jahres sagt der Berliner Gefängnisarzt Karlheinz Keppler, dass viele offene Stellen durch Honorarärzte besetzt werden müssen. Genau so eine Stelle hat Lisa für einige Monate angenommen. „Des Geldes wegen“, sagt sie ganz ehrlich. „Aber natürlich auch, weil ich als junge Ärztin da so viel lernen kann. Da gibt es niemanden, keinen Chefarzt, dem du berichtest. Du machst alles allein – mit einem großartigen Team an Pflegern und Therapeuten zusammen, auf Augenhöhe.“
Das sieht Lisa auch als einen der größten Vorteile gegenüber der Arbeit in der Klinik – ihre Kollegen. Hier halten alle zusammen, es gibt flache Hierarchien, ein richtiges Teamgefühl. Das hat sie in der Klinik bisher so nicht erlebt. „Was aber auch richtig geil ist, sind die ganzen Geräte, die wir hier haben“, schwärmt die junge Ärztin. „Wir rechnen immer gegen, was es kosten würde, den Patienten in ein Krankenhaus zu fahren. Da hat man immer total viel Personal gebunden mit Pflegern, Sicherheitsbeamten, Fahrer, Arzt – gerade bei Terroristen oder ähnlichen Insassen, wobei viele Terroristen meiner Erfahrung nach nette Menschen sind, zumindest netter als Kinderschänder, denn die können sich benehmen. Die wissen, dass du nur der Arzt bist und nur zufällig Repräsentant des Systems.“
Wegen dieses Aufwands und der Kosten wird sehr viel im Gefängnis selbst gemacht. Es gibt keine langen Arztbriefe, sondern eine Kurzdokumentation im Onlinesystem – darüber kann auch auf die Strafakte und eventuell behandelnde Psychologen zugegriffen werden. Es gibt moderne digitale Dermatoskope, ein neues EKG, das digital selbst befunden kann, ein Sono-Gerät mit sämtlichen Aufsätzen und eine Videoklinik, über die die Gefängnisärztin rund um die Uhr mit Experten und Fachärzten sprechen kann – in jeder nur erdenklichen Sprache.
Lisa beginnt ihren Tag in der Justizvollzugsanstalt. Nach sieben gesicherten Türen, der Waffenkammer, Abgeben und Einsperren von Handy und Schlüsseln – aber dafür um ein Sicherheitsgerät reicher – kommt sie in der Gefängnispraxis an. Um welche zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen es sich hier genau handelt, kann aus Sicherheitsgründen nicht erläutert werden. „Unsere Handys und Autoschlüssel geben wir ab, falls wir überfallen oder als Geisel genommen werden sollten. Man will den Insassen ja nicht gleich das Fluchtauto mitliefern“, erklärt sie.
Wie sich ihr Alltag gestaltet, hängt immer auch davon ab „wie viel Mist die Jungs bauen“, scherzt die junge Ärztin. Lisa ist gut gelaunt, offen und nimmt in unserem Gespräch kein Blatt vor den Mund. „Meine Vorgänger haben allesamt Gewalt erfahren, seien es Schläge ins Gesicht oder Prügeleien. Ich denke, ich habe hier einen Vorteil als Frau – die Hemmschwelle, eine Frau zu schlagen, ist bei vielen doch größer“, sagt sie. „Ich kann Situationen auch einfach ganz anders deeskalieren. Ich kann dann schon mal sagen ‚Sie Schlitzohr, das macht man aber nicht!‘. Die denken aber auch oft, ich sei ein kleines Dummerchen, das nicht weiß, was sie vorhaben.“ Denn viele Patienten versuchen, über die Besuche beim Gefängnisarzt an Medikamente zu kommen – die Währung in der JVA. „Im Knast bezahlt man nicht mit Geld. Hier bezahlt man mit Medikamenten, Drogen und Kippen. Eine Tablette Tilidin entspricht etwa drei Packungen Tabak.“
Von 7:30 bis 11:00 Uhr ist Sprechstunde. Die Gefangenen werden einzeln aus dem Wartezimmer geholt und mit einer Pflegekraft zusammen vorgeführt. „Sprechstunde ist ziemlich cool, die hat eine sehr hohe Taktung, die MFAs machen da gut Druck“, sagt Lisa lachend. „Es ist auch sehr wichtig, dass wir aufeinander achten. Wenn ich merke, eine MFA nimmt gerade allein bei einem Patienten Blut ab und der hat schon so eine aggressive Grundhaltung, mache ich schon mal die Türe zum Behandlungszimmer auf und sage Hallo, um den Patienten charmant wissen zu lassen: Die MFA ist nicht allein und ich habe ihn im Blick.“
Die MFAs und Pflegekräfte sind immer mehrsprachig und leisten neben ihren medizinischen Tätigkeiten auch Übersetzungsarbeit. Denn nur an die 30 % der Gefängnisinsassen in Lisas JVA sprechen oder verstehen Deutsch. Viele können nicht lesen und schreiben. „Es ist auch so wichtig, dass man die unterschiedlichen Kulturen versteht. Wenn da ein Patient sagt, er hat Schlangen im Bauch – ist das was Psychosomatisches, hat er Entzugserscheinungen oder ist es doch Magen-Darm?“ Eine große Herausforderung sei oft die durch psychiatrische Krankheitsbilder fehlende Empathie. „Wenn jemand einer Taube aus Langeweile den Kopf abbeißt und nicht versteht, dass eine Taube kein Fußball ist, dann braucht das eine ganze andere Arzt-Patienten-Kommunikation.“
Nach einem frühen Mittagessen um 11:30 Uhr sind am Nachmittag die schwierigeren Fälle dran. „Da sehe ich dann Patienten aus dem besonders gesicherten Haftraum“, erzählt Lisa. Dabei handelt es sich um Patienten, die suizidal oder akut fremdgefährdend sind, die sich in Einzelhaft befinden oder gerade Drogen genommen haben. „Für die wirklich schweren Fälle versucht man dann, ein Bett zu bekommen oder sie über die Nacht zu bringen.“
Aber so interessant und lehrreich die Arbeit selbst ist, so sehr leidet auch das Privatleben unter dem Job im Knast. „Wenn du das erste Mal einem Patienten ein unvorteilhaftes Gutachten geschrieben hast, von dem du weißt, der wird jetzt zwar entlassen, ist in ein paar Wochen aber eh wieder im Knast – die drohen mir dann schon, mich umbringen zu wollen oder mich zu vergewaltigen. Da passt man dann doch schon mal eher auf, ob man jetzt wirklich das eine Foto online postet, auf dem dein Wohnort zu sehen ist“, sagt Lisa.
„An meinem Klingelschild steht auch nur mein Nachname. Man kann daran nicht erkennen, dass ich weiblich bin, oder Ärztin. Ich habe mehrere Türschlösser, es weiß immer jemand Bescheid, wo ich bin“, berichtet sie. „Bei meinen Nachbarn bin ich auch nicht unbedingt beliebt“, räumt Lisa ein. „Die wissen, was ich tue. Das ist wichtig, weil ich niemanden ungefragt in den Hausflur lassen will. Wenn ein Lieferant klingelt, achte ich beispielsweise sehr darauf, dass er den Hausflur auch wieder verlässt.“ Gerade Lieferfahrer seien eine mögliche Gefahr, da Einstellungskriterien für diese Jobs oft sehr niedrig sind und so auch ehemaligen Insassen offenstehen. „Viele der Patienten, die ich kennengelernt habe, die Kinder vergewaltigt haben, wussten: Wenn ich bei Haus X zu Uhrzeit Y was liefere, macht immer die Kleine auf.“
Das ist wohl auch einer der Gründe, warum Gefängnisse so gut wie keine festangestellten Ärzte mehr nachbesetzten können. Im ländlichen Gebiet kommt der ohnehin vorherrschende Ärztemangel dazu. Viele Gefangene würden unter Infektionskrankheiten leiden, viele seien drogenabhängig – insgesamt also nicht das angenehmste Klientel.
Das Arbeiten als Gefängnisärztin hat aber auch seine Vorteile, findet Lisa. „Ein ganz einfacher, aber gravierender Unterschied zur Klinik: ich stemple meine Arbeitszeit. Hier zählt jede Minute und jede Minute wird bezahlt. Ich habe geregelte Arbeitszeiten und ich muss mich nicht mit der Dokumentation und der Krankenkassen-Bürokratie rumschlagen.“ Den größten Vorteil zur Arbeit in der Klinik sieht sie aber darin, wirklich als Kollegin behandelt zu werden. „Es ist mir als junge Assistenzärztin oft passiert, dass ich beispielsweise am Telefon vom Oberarzt zur Sau gemacht wurde – wenn ich aber von hier aus in der Klinik anrufe und Rückfragen stelle, passiert das nicht. Es macht echt Spaß, dass wir hier so interdisziplinär auf Augenhöhe zusammenarbeiten, egal ob Arzt, Pflege – die in der JVA wirklich verdammt gut ist – MFA, Therapeut oder Psychologe. Davon könnten sich so manche Unikliniken wirklich was abgucken.“
Bildquelle: Ye Jinghan, Unsplash