Mit speziellen Testaufgaben auf dem Smartphone lassen sich leichte kognitive Beeinträchtigungen, die auf eine Alzheimer-Erkrankung hindeuten können, mit hoher Genauigkeit erkennen. Mehr dazu hier.
Die Ergebnisse einer neuen Studie unterstreichen das Potenzial mobiler Apps für die Alzheimer-Forschung, klinische Studien und die medizinische Routineversorgung. Die hier untersuchte App wird inzwischen Arztpraxen angeboten, um die Früherkennung von Gedächtnisproblemen zu unterstützen.
Störungen des Erinnerungsvermögens sind ein wesentliches Symptom der Alzheimer-Krankheit. Es ist daher naheliegend, dass der Schweregrad und die zeitliche Entwicklung solcher Gedächtnisprobleme bei der Diagnose der Erkrankung und in der Alzheimer-Forschung eine zentrale Rolle spielen.
In der aktuellen klinischen Praxis werden solche Gedächtnistests unter Anleitung einer medizinischen Fachkraft durchgeführt. Die untersuchten Personen müssen dabei schriftlich oder im Zwiegespräch standardisierte Aufgaben lösen: sich zum Beispiel Wörter merken und wiederholen, spontan möglichst viele Begriffe zu einem bestimmten Thema nennen oder nach Vorgaben geometrische Figuren zeichnen. Alle diese Tests erfordern zwingend eine professionelle Betreuung, ansonsten sind die Ergebnisse nicht aussagekräftig. Diese Tests können daher nicht alleine, etwa zu Hause, durchgeführt werden.
Prof. Emrah Düzel, Neurowissenschaftler am DZNE-Standort Magdeburg und an der Universitätsmedizin Magdeburg sowie Unternehmer in der Medizintechnik, plädiert für einen neuen Ansatz: „Es hat Vorteile, wenn man solche Tests selbstständig durchführen kann und erst zur Auswertung der Ergebnisse eine Praxis aufsuchen muss. So wie man das zum Beispiel von einem Langzeit-EKG kennt. Solche Testungen ohne Aufsicht würden helfen, klinisch relevante Gedächtnisstörungen im Frühstadium zu erkennen und Krankheitsverläufe engmaschiger zu erfassen, als es heute möglich ist. Angesichts jüngster Entwicklungen in der Alzheimer-Therapie und neuer Behandlungsmöglichkeiten wird eine frühzeitige Diagnose immer bedeutsamer.“
Ein Magdeburger Start-Up hat eine App entwickelt, die eigenständige Gedächtnistests ermöglicht, ohne dass dafür eine professionelle Betreuung erforderlich ist. Die Software läuft auf Smartphones und Tablets und ist wissenschaftlich validiert. Sie wird in der Alzheimer-Forschung verwendet und inzwischen auch als diagnostisches Hilfsmittel für Arztpraxen zur frühzeitigen Erkennung leichter kognitiver Beeinträchtigungen angeboten. Im Fachjargon spricht man auch von Mild Cognitive Impairment – kurz: MCI. Zwar beeinträchtigt MCI den Alltag der betroffenen Personen nur wenig, allerdings haben sie ein erhöhtes Risiko innerhalb weniger Jahre eine Alzheimer-Demenz zu entwickeln.
Dr. David Berron, Forschungsgruppenleiter am DZNE erläutert: „Als Bestandteil der Validierung haben wir sowohl dieses neuartige Testverfahren, das keine direkte Aufsicht benötigt, als auch eine etablierte neuropsychologische Untersuchung in der Klinik angewandt. Dabei hat sich gezeigt, dass die neue Methode mit klinischen Untersuchungen vergleichbar ist und leichte kognitive Beeinträchtigungen, auch bekannt als MCI, mit hoher Genauigkeit erkennt. Diese Technologie hat ein enormes Potenzial, Ärztinnen und Ärzten Informationen zur Verfügung zu stellen, die sich bei einem Patientenbesuch in der Klinik nicht ermitteln lassen.“ Diese Befunde wurden jetzt in npj Digital Medicine veröffentlicht.
An der aktuellen Studie nahmen insgesamt 199 Frauen und Männer im Alter über 60 Jahren teil. Sie waren entweder in Deutschland oder den USA verortet und jeweils in eine von zwei Langzeituntersuchungen eingebunden – der DELCODE-Studie des DZNE oder der WRAP-Studie der University of Wisconsin-Madison. Die Studiengruppe spiegelte unterschiedliche kognitive Zustände wider, die in der Praxis vorkommen: Sie umfasste Personen, die kognitiv gesund waren, Menschen mit MCI, sowie andere mit subjektiv empfundenen, jedoch nicht messbaren Gedächtnisbeschwerden.
Grundlage für die Diagnose waren Untersuchungen nach einem etablierten Verfahren, das unter anderem Gedächtnis- und Sprachaufgaben beinhaltet. Außerdem führten alle Probanden über einen Zeitraum von mindestens sechs Wochen mehrfache Gedächtnistests mit der neotiv-App durch. Dazu nutzten sie eigene Smartphones oder Tablets. Die Probanden testeten sich selbstständig – und dort, wo immer es ihnen gelegen kam. „Die meisten unserer WRAP-Teilnehmer konnten die digitalen Aufgaben eigenständig erledigen und waren mit den Aufgaben und der digitalen Plattform zufrieden“, sagt Lindsay Clark von der University of Wisconsin-Madison.
„Die Testung mit der neotiv-App ist interaktiv und umfasst drei Arten von Gedächtnisaufgaben. Damit werden jeweils unterschiedliche Bereiche des Gehirns angesprochen, die in verschiedenen Phasen einer Alzheimer-Erkrankung betroffen sein können. Dahinter steckt langjährige Forschungsarbeit“, erläutert Düzel. Im Wesentlichen geht es bei diesen Tests darum, sich Bilder zu merken oder Unterschiede zwischen Bildern zu erkennen, die von der App eingeblendet werden. Anhand eines eigens entwickelten Parameters konnte das deutsch-amerikanische Forschungsteam die Ergebnisse der App mit den Befunden der etablierten, klinischen Methode vergleichen.
„Unsere Studie zeigt, dass sich mit diesem digitalen Verfahren Gedächtnisbeschwerden aussagekräftig beurteilen lassen“, so Düzel. „Deuten die Ergebnisse des digitalen Tests darauf hin, dass eine für MCI typische Gedächtnisstörung vorliegt, ebnet dies den Weg für weitere klinische Untersuchungen. Weisen die Testergebnisse darauf hin, dass die Gedächtnisleistung im altersspezifischen Normalbereich liegt, kann man vorerst Entwarnung geben. Und für die Alzheimer-Forschung bietet sich hier ein digitales Instrument zur Beurteilung der kognitiven Fähigkeiten, das in klinischen Studien eingesetzt werden kann. In Deutschland, den USA, Schweden und anderen Ländern geschieht dies bereits.“
Dieser Beitrag basiert auf einer Pressemitteilung des Deutschen Zentrum für Neurogenerative Erkrankungen e.V. (DZNE). Die Originalpublikation haben wir euch hier verlinkt.
Bildquelle: Paul Hanaoka, Unsplash