Der Patient berichtet von kribbelnden Fingern und Lähmungen in Armen und Beinen. Die Neurologen vermuten zunächst das Guillain-Barré-Syndrom, können das aber nicht bestätigen. Erst ein Geständnis des Patienten bringt sie auf die richtige Spur.
Die Ärzte der Neurologie am Universitätsklinikum Bonn stehen vor einem Rätsel. Ist ihr 47-jähriger Patient doch nicht am Guillain-Barré-Syndrom erkrankt, so wie zunächst vermutet? Die seltene Erkrankung, bei der das Immunsystem die Nervenzellen angreift, schien zunächst eine plausible Erklärung zu sein. Die Symptome passten: Der Mann berichtete von aufsteigenden Lähmungen, Ataxien und einer spürbaren Schwäche in den Extremitäten. Doch erste Untersuchungen – inklusive Liquoruntersuchung und Borrelienserologie – liefert keine Bestätigung. Labordiagnostisch fällt eine schwere Hyperhomocysteinämie auf, der Vitamin‑B12-Blutspiegel ist allerdings normal.
Es folgt die neurologische Diagnostik, die eine sensible Ataxie und symmetrisch distale Hypästhesie aufdeckt. Die Reflexe an den Achillessehnen fehlen, die Muskeln der distalen Extremitäten zeigen Schwäche, jedoch ohne autonome Dysfunktion oder Ausfälle der Hirnnerven.
Eine zervikale spinale Magnetresonanztomographie zeigt T2-Hyperintensitäten der Hinterstränge in den Höhen C2 bis C7, welche in der sagittalen Bildgebung V‑förmig zur Darstellung kamen. Credit: Meißner et al. Die Neurographie, ein Verfahren, das die Funktion peripherer Nerven misst, zeigt schließlich das wahre Ausmaß der Situation: eine axonal-demyelinisierende Polyneuropathie, begleitet von verlängerten F-Wellen-Latenzen und herabgesetzten Nervenleitgeschwindigkeiten. Im MRT zeigen sich T2-Hyperintensitäten der Hinterstränge, die ein V-förmiges Muster annehmen – ein Befund, der eine funikuläre Myelose nahelegt. Die fortschreitende Schädigung des Rückenmarks wird durch einen Vitamin-B12-Mangel ausgelöst. Aber wie kann das sein?
Auf Nachfrage erklärt der Mann schließlich, er habe vor 7 Wochen vier mit Lachgas gefüllte Luftballons inhaliert. Endlich ergibt sich ein stimmiges Bild: Zwar waren die Vitamin-B12-Spiegel im Normbereich, allerdings kann ein metabolischer Vitamin‑B12-Mangel leicht übersehen werden. Das liegt daran, weil die routinemäßig bestimmten Vitamin-B12- und Holotranscobalamin-Serumspiegel weniger sensitiv sind als die Bestimmung des Homocysteinspiegels. Und dieser Wert war bei dem Patienten stark erhöht, was daurauf hindeutet, dass der Vitamin-B12-abhängige Homocystein-Stoffwechsel durch den Lachgaskonsum gestört wurde.
Die Lähmungserscheinungen lassen sich wie folgt erklären: Lachgas oxidiert Vitamin B12 und blockiert die Umwandlung von Homocystein in Methionin, das wiederum zur Myelinbildung nötig ist. Dadurch kann es zu Demyelinisierungen und folglich zu Polyneuropathien und Lähmungen kommen.
Dem Patienten können die Ärzte mit hochdosierten Vitamin-B12-Gaben schnell helfen. Schon wenige Tage nach der Behandlung bessert sich sein Zustand.
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