Ein Patient mit ungewöhnlicher Wahrnehmungsstörung: Die Gesichter anderer Menschen erscheinen ihm fratzenhaft verzerrt. Neurologen konnten diese Grimassen erstmals visualisieren. Seht sie euch hier an.
Menschen, die an der seltenen neurologischen Störung namens Prosopometamorphopsie (PMO) leiden, können Gesichter nicht mehr normal wahrnehmen, sondern sie erscheinen ihnen verzerrt. Neurologen vom Darthmouth College in den USA, haben im Lancet jetzt einen besonderen Fall eines Betroffenen veröffentlicht – und haben die verzerrten Gesichter erstmals visualisieren können.
Ein 58-Jähriger berichtet, seit etwa 3 Jahren Gesichter nur noch als „dämonisch“ wahrnehmen zu können. Die Gesichtszüge seiner Mitmenschen seien stark verzerrt mit tiefen Furchen auf Stirn, Wangen und Kinn. Diese treten laut des Mannes bei allen Personen auf, denen er begegnet. Offenbar gehen sie aber nicht mit wahnhaften Vorstellungen über die Identität der Personen einher. Er ist zudem immer noch dazu in der Lage die Personen zu erkennen und zu unterscheiden. Beim Betrachten von Objekten tritt das seltsame Phänomen nicht auf, berichtet der Patient. Zu Beginn hätten ihn die Fratzen extrem verängstigt, inzwischen habe er sich aber daran gewöhnt. Bei der Vorstellung in der Klinik wirkt der Mann ruhig und gelassen.
Während der Patient erzählt, fällt den Medizinern eine Besonderheit auf. Normalerweise nehmen Menschen mit PMO jegliche Gesichter verzerrt war, der Patient berichtet aber: Gesichter, die er auf Papier oder Bildschirmen betrachtet, erscheinen ihm völlig normal. Diesen Umstand machen sich die Mediziner zu Nutze, um die Wahrnehmungsstörung zu visualisieren. An diesem Versuch sind Studien zu PMO bislang gescheitert, denn „Patienten mit PMO können nicht einschätzen, wie genau eine Visualisierung der Verzerrungen das wiedergibt, was sie sehen“, erklärt Hauptautor Antônio Mello, ein Doktorand in der Abteilung für Psychologie und Neurowissenschaften in Dartmouth. „Denn die Visualisierung selbst stellt auch ein Gesicht dar, so dass die Patienten auch darauf Verzerrungen wahrnehmen.“
Die Mediziner nutzen diese einzigartige Gelegenheit und starten einen Versuch: Sie nehmen ein Foto des Gesichts einer Person auf. Dann zeigen sie dem Patienten das Foto auf einem Computerbildschirm, während er das echte Gesicht der gleichen Person betrachtet. Die Neurologen erhalten vom Patienten in Echtzeit Rückmeldung darüber, wie sich das Gesicht auf dem Bildschirm und das reale Gesicht vor ihm unterschieden. Mithilfe einer Computersoftware verändern sie das Foto so, dass es den vom Patienten wahrgenommenen Verzerrungen entspricht. Und so sehen die Gesichter aus:
Computergenerierte Bilder der Verzerrungen eines männlichen Gesichts (oben) und eines weiblichen Gesichts (unten), wie sie von dem Patienten in der Studie wahrgenommen wurden. Credit: A. Mello et al.
Aber was könnte die Wahrnehmungsstörung ausgelöst haben? Wie die Autoren in ihrem Case Report erklären, wurden Fälle bereits bei Patienten mit Kopfverletzungen, Schlaganfällen und Migräne beschrieben. Aber auch die Einnahme von Halluzinogenen – genauer die sogenannte Hallucinogen persisting perception disorder (HPPD) – können ursächlich sein. Manchmal findet sich aber auch gar kein Auslöser.
In der Krankheitsgeschichte des Patienten finden die Mediziner bereits ein paar Anhaltspunkte für eine mögliche Ursache seiner PMO. In der Krankenakte des Patienten sind eine bipolare Störung, eine posttraumatische Belastungsstörung und ein Klinikaufenthalt aufgrund einer Kopfverletzung vermerkt. Knapp 4 Monate vor Einsetzen der Symptome erlitt er zudem eine mögliche Kohlenmonoxid-Vergiftung. Ebenfalls auffällig: Als die Mediziner den Patienten mittels MRT untersuchen, zeigt sich im Bereich des linken Hippocampus eine Läsion. Der Neurologe vermutet eine Arachnoidalzyste. Allerdings ist laut der Ärzte unklar, ob sie tatsächlich mit der Wahrnehmungsstörung in Verbindung steht, da der Hippocampus nicht für die Gesichtserkennung zuständig ist.
So unterschiedlich die Ursachen sein können, so äußert sich die Wahrnehmungsstörung bei jedem Betroffenen anders – von denen übrigens nur 75 weltweit bekannt sind. Nicht jeder sieht „dämonische“ Grimassen, die Gesichter können auch zu groß, zu klein, gestreckt oder auch eine falsche Textur oder Farbe aufweisen. Auch hält die gestörte Wahrnehmung meist nur einige Tage oder Wochen an, seltener mehrere Jahre, wie in diesem Fall.
Die Mediziner erhoffen sich von ihrer Veröffentlichung mehr Aufmerksamkeit für PMO, auch um Fehldiagnosen zu vermeiden und Therapieoptionen zu erforschen. Der Hauptautor Brad Duchaine, Professor für Psychologie und Neurowissenschaften sowie Leiter des Social Perception Lab in Dartmouth erklärt: „Wir haben von mehreren Menschen mit PMO gehört, dass sie von Psychiatern als schizophren diagnostiziert und auf Antipsychotika gesetzt wurden, obwohl es sich bei ihrem Leiden um ein Problem mit dem visuellen System handelt.“
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