Immer mehr Menschen sterben an den Folgen einer Sepsis. Ein möglicher Grund: Mitarbeiter im Rettungsdienst stellen fast nie die Diagnose. Was muss sich ändern?
Sepsis wird im Volksmund als Blutvergiftung beschrieben. Diese Bezeichnung entspricht allerdings nicht der Definition der Sepsis nach der aktuellen Leitlinie: „Eine Sepsis ist eine akut lebensbedrohliche Organdysfunktion, hervorgerufen durch eine inadäquate Wirtantwort auf eine Infektion.“ Was beiden Definitionen gemein ist: Sie beschreiben eine lebensgefährliche Erkrankung, die auch in Deutschland häufig ist und mit einer hohen Letalität einhergeht.
Daten aus dem deutschen Abrechnungssystem zeigen, dass im Jahr 2022 179.660 Patienten mit der Haupt- oder Nebendiagnose Sepsis oder septischer Schock im Krankenhaus behandelt worden sind, davon starben 40 %. Wenn man die Entwicklung der Fallzahlen über die letzten 15 Jahre betrachtet, fällt auf, dass die kodierten Hauptdiagnosen für Sepsis von 2006 bis 2019 stetig angestiegen sind. Dies könnte möglicherweise auf die intensive Diskussion über die diagnostischen Kriterien einer Sepsis und die Auswirkungen der korrekten Kodierung auf die Erlössituation in den Krankenhäusern zurückzuführen sein. Ebenfalls stiegen die Todesfälle im Zusammenhang mit Sepsis an.
Zwischen 2019 und 2021 halbierten sich dann jedoch die Sepsisfälle. Eine Ursache hierfür war die Änderung der diagnostischen Kriterien im ICD-10 im Jahr 2020, wobei die Kriterien der Sepsis 3.0 übernommen wurden und das Systemische Inflammatorische Response-Syndrom (SIRS) ohne Organdysfunktion nicht mehr als Sepsis kodiert wurde. Darüber hinaus beeinflusste die SARS-CoV-2-Pandemie die infektiologischen Entwicklungen. Trotz dieser rückläufigen Fallzahlen stieg die Letalität der Sepsis jedoch weiterhin an.
Die Trends in Bezug auf die Fallzahlen und die Letalität von Sepsis verdeutlichen die immense Bedeutung weiterer Forschung zur Optimierung von Diagnostik und Therapie dieser Erkrankung. Ein entscheidender Faktor ist die frühzeitige Erkennung und Behandlung einer Sepsis, denn die meisten Fälle treten außerhalb des Krankenhauses auf. Es ist bekannt, dass die Identifizierung der Sepsis durch den Rettungsdienst mit einer verringerten Letalität verbunden ist. Aber es werden nur wenige Sepsisfälle bereits durch den Rettungsdienst erkannt.
Eine retrospektive Kohortenstudie, die im Journal Infection veröffentlicht wurde, untersucht die Frage, welches Screening-Tool im Rettungsdienst die beste Vorhersagekraft für die frühzeitige Erkennung einer Sepsis hat. Die Autoren analysieren auch die Inzidenz und die Letalität von Sepsis sowie die Dokumentation von screeningrelevanten Parametern und Sepsisverdachtsfällen. Die Ergebnisse basieren auf der Auswertung von Abrechnungsdaten von zehn Krankenversicherungen sowie auf den Rettungsdienstdokumentationen von Mitarbeitern im Rettungsdienst aus Deutschland.
Unter den 221.429 analysierten Fällen wurden 3.470 Patienten mit der Diagnose Sepsis stationär aufgenommen. Diese Patienten waren im Vergleich zu den nicht-septischen Fällen älter und häufiger männlich. Während die Inzidenz von Sepsis (1,6 %) in dieser Studienpopulation leicht unter den Inzidenzen für Schlaganfall (2,7 %) und Myokardinfarkt (2,6 %) lag, war die Krankenhausletalität bei Sepsis im Vergleich zu diesen Erkrankungen signifikant erhöht (31,6 % vs. 11,4 %).
Bei der Dokumentation der Vitalparameter als screeningrelevante Parameter und der Dokumentation der Verdachtsdiagnose Sepsis zeigt sich ein verbesserungswürdiger Status: In nur 8,2 % der Fälle wurden alle screeningrelevanten Parameter dokumentiert. Die Verdachtsdiagnose Sepsis wurde durch den Rettungsdienst nie und durch die Notärzte nur in 0,1 % der Fälle dokumentiert.
Die Autoren untersuchten vier Screening-Tools, die in den Empfehlungen der Surviving Sepsis Campaign erwähnt sind, um festzustellen, welches dazu beitragen könnte, mehr septische Fälle bereits im Rettungsdienst zu identifizieren: die Kriterien für das Systemic Inflammatory Response Syndrome (SIRS), den Modified Early Warning Score (MEWS), den National Early Warning Score 2 (NEWS2) und das quick Sequential [Sepsis-related] Organ Failure Assessment (qSOFA). Die Scores wurden retrospektiv für die Sepsisfälle kalkuliert. Parameter, die dem Rettungsdienst nicht zur Verfügung standen, wie beispielsweise die Leukozytenzahl im Blutbild, die Urinausscheidung oder der pCO2, wurden in der Berechnung ausgelassen. Zusätzlich wurden nicht erhobene Vitalparameter durch geschätzte Werte ersetzt. In der Auswertung zeigten die Screening-Tools erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Fähigkeit, einen Sepsisfall vorherzusagen. Der NEWS2 erwies sich als das beste Tool zur Vorhersage der meisten septischen Fälle und wies das beste Verhältnis zwischen richtig-positiven und falsch-positiven Raten auf. Die Autoren resümieren somit, dass der NEWS2 möglicherweise das beste Screening-Tool im Rettungsdienst ist.
Die hohe Inzidenz und Letalität der Sepsis, wie auch in dieser Studie bestätigt, unterstreichen die enorme Bedeutung der Sepsis in unserem Gesundheitssystem. Es wird deutlich, dass es einen dringenden Bedarf an Weiterbildungsmaßnahmen für Mitarbeiter im Rettungsdienst gibt. Erwähnenswert ist auch, dass in dieser Studie die Letalität der Sepsis höher war als bei Schlaganfall und Myokardinfarkt. Nicht zuletzt wird dies sicherlich auch auf eine verminderte Aufmerksamkeit gegenüber der Sepsis zurückzuführen sein.
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