Beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom werden gesunde Kinder auf Verlangen ihrer Eltern und unter Vorspiegelung falscher Symptome zum Arzt gebracht. Doch was lässt vor allem Mütter immer wieder zu Gift oder Messer greifen?
Der englische Kinderarzt Roy Meadow publizierte im Jahr 1977 zwei Fälle, bei denen Mütter ihre Kinder heimlich krank gemacht hatten: In einem Fall hatte die Mutter seit Geburt bis zum Alter von 6 Jahren dem Urin des Kindes Blut und Eiter beigemischt, so dass das Kind eine endlose Tortur von medizinischen Untersuchungen und Behandlungen erdulden musste. Erst im 6. Lebensjahr wurde die richtige Diagnose gestellt. Ein völlig gesundes Kind wurde Opfer einer bislang unbekannten Form der Kindsmisshandlung. Meadow nannte das Krankheitsbild Münchhausen-by-proxy-Syndrom, weil die Mütter systematisch den Arzt mit frei erfundenen Geschichten über Krankheiten täuschen, dabei aber nicht den eigenen Körper, sondern in Vertretung den des Kindes benutzen. Weitere Bezeichnungen sind u. a. MSBP (Münchhausen Syndrome by Proxy) oder FDP (Factitious Disorder by Proxy). Die Bezeichnung „Münchhausen-Syndrom“ wurde bereits 1951 von dem englischen Internisten R. Asher eingeführt und sehr undifferenziert für alle artifiziellen Störungen angewendet.
In neun von zehn Fällen sind es Mütter, die zu Gift oder Messer greifen. Meistens haben sie eine medizinische Grundausbildung und weichen nicht von ihrem Kind. Für den behandelnden Arzt sind die Symptome bei den Kindern oft rational nicht erklärbar. Die Mütter suchen den intensiven Kontakt zu Ärzten und Pflegepersonal, bauen teilweise freundschaftliche Beziehungen auf und fachsimpeln gern über die Anamnese des Kindes. Die Dunkelziffer des MSBP ist verständlicherweise hoch. Das klassische Syndrom gibt es nicht. Blutige Durchfälle, Krämpfe, unklares Fieber, Bakteriämien, Elektrolytentgleisungen und Hautausschläge sind nur wenige Möglichkeiten des „Münchhausen-Katalogs“. Um das eigene Kind zum hilfebedürftigen Patienten zu machen, greifen die Mütter zu Rasierklingen, Glasscherben, Laxantien, verabreichen Säure und trizyklische Antidepressiva, pressen dem wehrlosen Kind bis zur Apnoe das Kissen auf das Gesicht oder tauchen den Kopf in Wasser. Auch das Verfälschen von Laborbefunden durch die Beimengung von elterlichem Blut in Sputum, Urin und Stuhl sind denkbar.
Die Pädiaterin Donna Rosenberg veröffentlichte 1987 eine Analyse von 117 Fällen von MSBP. Ihre Definition wird auch heute noch unverändert übernommen:
Im DSM IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) sucht man die artifizielle Störung MSBP vergeblich, sie lässt sich unter „nicht näher bezeichnete vorgetäuschte Störung“ einteilen. Vermutlich, um die Mütter gerichtlich nicht zu entlasten. Im ICD-10 werden lediglich artifizielle Störungen allgemein klassifiziert. In der aktuellen Ausgabe der Textrevision des DSM-IV-TR rückt der „Täter“ in den Mittelpunkt, es werden vier Kriterien zur Diagnose aufgeführt.
Meadow ist der Meinung, dass die Motivation der Mütter in die Diagnose miteinbezogen werden soll. Damit soll eine übermäßige Nutzung des Begriffs vermieden werden.
Das Committee on Child Abuse and Neglect empfiehlt für MSBP die Aufteilung in zwei Störungen: die pädiatrische Diagnose pediatric condition falsification und die psychiatrische Diagnose factitious disorder by proxy. Das Komitee ist eine Arbeitsgruppe der American Academy of Pediatrics, eine US-amerikanische Vereinigung von Kinderärzten. Die Bezeichnung MSBP soll als vereinende Beschreibung für beide Diagnosen gelten.
Durch diese Trennung des MSBP in zwei Diagnosen besteht die Möglichkeit, die Misshandlung des Kindes zu diagnostizieren, ohne gleichzeitig die Motivation der Mutter beweisen oder darlegen zu müssen.
Der Psychologe PD Dr. Meiniolf Noeker, Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation Bremen, beschreibt vier in ihrem Schweregrad ansteigende Stufen:
Für ihre Dissertation schrieb Dr. Simone Iris Lorenc im Jahr 2012 379 Kinderkrankenhäuser in Deutschland an, um Daten zur Häufigkeit von MSBP in Deutschland zu liefern. 203 Krankenhäuser schickten den Fax-Antwortbogen zurück. Davon gaben 86 (42 Prozent) Krankenhäuser an, Verdachtsfälle und/oder gesicherte Fälle zu haben. 117 (58 Prozent) Krankenhäuser verneinten dies. Insgesamt ergaben sich 91 Verdachtsfälle und mindestens 99 gesicherte Fällen von Münchhausen-by-proxy-Syndrom. Dies ergibt eine Fallzahl von 190 positiven Fällen (Verdachtsfälle und gesicherte Fälle) bei einem durchschnittlichen Beobachtungszeitraum von 11 Jahren. In 48 der in unserer Studie beschriebenen 50 gesicherten Fälle war die Mutter die verursachende Person. In der Studie zeigten sich in 40 Prozent der Fälle unterschiedliche ZNS-Symptome, darunter 20 Prozent Atemstörungen. In 44 Prozent der Fälle wurden Durchfälle und Erbrechen hervorgerufen. In 25 Fällen erfolgte eine endgültige Diagnosesicherung per Toxikologie durch Untersuchungen von Körperflüssigkeiten. Bei neun Opfern waren ernsthafte gesundheitliche Folgeschäden bekannt, ein Opfer verstarb
Die psychoneurotische Störung der Mütter hat häufig die Suche nach einem „starken Beschützer“ als Ursache. Der schützende und autoritäre Arzt erfüllt diese Bedürfnisse unbewusst. Das Kind wird als Kontrollinstrument für die Arzt-Patienten-Beziehung missbraucht. Häufig liegt die Ursache der massiv gestörten Mutter-Kind-Beziehung in der eigenen Kindheit der Mutter. Nicht selten wurde sie als Kind ebenfalls misshandelt.
Der Arzt muss zum Detektiv im weißen Kittel werden und eine umfangreiche Sozialanamnese erstellen. Ohne Unterstützung von Behörden und Ämtern ist eine Hilfe für das Kind jedoch unmöglich. Nur multidisziplinäres Vorgehen trägt dazu bei, die Krankheit der Mutter aufzudecken und das Kind zu retten, bevor es „aus Versehen“ an Münchhausens Kugel stirbt. Oft vergehen Jahre, bis die richtige Diagnose gestellt wird. Wird ein Arzt misstrauisch, geht die Mutter zu einem anderen. Sogenanntes "Doktor-hopping" ist schwer zu entdecken. Die Verleugnungs- und Therapieverweigerungsrate der Mütter ist selbst bei lückenloser Beweisführung mit Video etc. extrem hoch, die Rezidivrate nach einer Therapie auch. Die einzige, für das Kind lebenserhaltende, Therapie führt deshalb meistens nicht der Arzt oder Psychologe, sondern der Richter durch. Er kann einen Sorgerechtsentzug und eine räumliche Trennung anordnen.