Homöopathie-Kritik macht sich bezahlt. Dr. Natalie Grams hat ihr zweites Buch veröffentlicht. Sie zeigt, mit welchen Halbwahrheiten Anhänger alternativer Therapien um Patienten buhlen – und welche Sonderstellung manche Verfahren haben. Doch wie neu sind die Erkenntnisse?
Heilberufler kennen Dr. Natalie Grams nur allzu gut. Früher arbeitete sie als homöopathische Ärztin. Nach umfangreichen Recherchen wandte sie sich von dieser Lehre komplett ab und veröffentlichte ihr erstes kritisches Buch zum Thema Homöopathie – quasi ein Stück Vergangenheitsbewältigung, an dem sie die Leser teilnehmen lässt. Bei Alternativmedizinern gilt sie seither als „Nestbeschmutzerin“. Jetzt legt Grams mit ihrem neuen Werk „Gesundheit! Ein Buch nicht ohne Nebenwirkungen“ nach. Sie erklärt nicht nur, warum Fakten nicht verhandelbar sind. Vielmehr zeigt die Ärztin, dass ein Netz aus arzneimittel- und sozialrechtlichen Ausnahmen alternative Theapien regelrecht schützt. Gibt es wirklich Neues zu berichten? Wir haben einen Blick in das Traktat geworfen.
Natalie Grams © privat In guter alter Tradition beginnt jedes wissenschaftlich anmutende Buch mit einem historischen Einstieg. Auf ermüdenden 60 Seiten spannt Grams den Bogen von Aristoteles bis zur evidenzbasierten Medizin. Was Ärzte seit ihrem Studium wissen, ist bei Patienten längst noch nicht angekommen, das ist klar. Ob sie sich durch eine dissertationsverdächtige Abhandlung quälen, bleibt fraglich. Inhaltlich vermittelt der Teil wenig Neues: Wissenschaftliche Hypothesen lassen sich nur mit überprüfbaren, gut dokumentierten Experimenten bestätigen. Bei Therapien geht nichts ohne randomisierte, kontrollierte Studien (RCTs). Sie gelten als die höchste Form des Erkenntnisgewinns. „Erfahrungswissen“ und „noch nicht erforschbare“, vermeintliche Zusammenhänge, wie sie Alternativmediziner gern anführen, können RCTs niemals ersetzen.
Danach wird die Sache deutlich interessanter. „Typische Fehler in der Pseudowissenschaft sind, dass sie naturwissenschaftlich gesichertem Wissen widersprechen oder keine Evidenz vorweisen können“, schreibt die Ärztin. „Oft wird zwar geforscht, aber eher nach dem Prinzip der sich selbst erfüllenden Prophezeiung.“ Auf Kritik von Wissenschaftlern reagiert die Community oft emotional, ohne Sachargumente vorzubringen. Vermeintliche Einzelfallberichte oder Erfahrungswerte sind kein Eratz für methodische Herangehendweisen.
Trotzdem haben fast zwei Drittel der erwachsenen Deutschen alternative Verfahren schon mindestens einmal in Anspruch genommen, wie Grams in ihrem Buch schildert. Hier bekommen auch Kollegen ihr Fett ab. Vielleicht liegt es daran, dass sich Patienten mit ihren Sorgen beim Arzt alleingelassen fühlen. Für Grams ist Medizin ein „sprechender Beruf“. Kommunikationsseminare gehören jedoch zu den unbeliebtesten Veranstaltungen bei Ärztekammern. Homöopathen setzen auf das unspezifische Setting ausführlicher Gespräche. Einer Heilung kommt das nicht gleich, aber Patienten schätzen den Dialog. Woher Ärzte die fehlende Zeit für Gespräche zaubern sollen, weiß auch Grams nicht. Vielleicht liegt es aber nicht an Medizinern, sondern an der Ablehnung von „Big Pharma“ und von Nebenwirkungen klassischer Arzneistoffe? „Alternativverfahren haben es geschafft, das Bild einer heilen Welt zu vermitteln“, konstatiert die Autorin. Und von echten Alternativen kann kaum die Rede sein. Bei bakteriellen Pneumonien zaubert Thymiantee Bakterien nicht einfach weg. Evidenzbasierte Ansätze sind eben alternativlos.
Grams erklärt, warum sich diverse Verfahren trotzdem auf dem Markt gehalten haben: „Die Ärztin Veronica Carstens, Frau des ehemaligen Bundespräsidenten, erreichte durch ihre Lobby-Tätigkeit, dass diese besonderen Therapieverfahren im Arzneimittelgesetz ‚besonders ‘ verankert sind: Ihre Medikamente können ohne klinische Studien auf den Markt gelangen.“ Und traditionelle Arzneimittel dürfen aufgrund eines Bestandsschutzes verkauft werden. Laien kennen diese Unterscheide nicht. Sie halten alle Präparate aus ihrer Apotheke für ähnlich wirksam. Hinzu kommt, dass alternative Methoden für sich beanspruchen, anerkannt zu sein. Sie entziehen sich der neutralen Beurteilung durch Experten.
Stattdessen wird mit Pseudoargumenten gearbeitet. Natalie Grams’ Negativliste:
Umso fragwürdiger ist, dass gesetzliche Krankenversicherungen (GKVen) seit 2012 die Möglichkeit haben, in gewissem Umfang Zusatzleistungen anzubieten. Grams: „Homöopathie und Akupunktur werden von sehr vielen gesetzlichen und privaten Krankenkassen erstattet, obwohl sie nicht mehr als eine Scheinbehandlung darstellen.“ Alle anderen Therapieverfahren werden vor der Kostenübernahme detailliert geprüft. Ohne umfangreiche Dossiers gibt der Gemeinsame Bundesausschuss kein grünes Licht. Die Nutzenbewertung anhand von Vergleichstherapien ist ein wichtiger Bestandteil. „Das kann man in Gegenüberstellung zu den normalen pharmazeutischen Mitteln wohl nur als höchst unfair bezeichnen“, meint die Autorin. „Was wirkt, ist Medizin, was nicht wirkt, gehört nicht in die Medizin des öffentlichen Gesundheitswesens.“
Grams Fazit betrifft Ärzte, Apotheker, Patienten und Politiker gleichermaßen: „Wir dürfen nicht so tun, als gäbe es zwei Medizinen: zum einen die auf wissenschaftlichen Fakten beruhende und zum anderen die, die zwar eine oft willkommene Wohlfühlmedizin anbietet, sich aber nicht auf Wirksamkeitsbelege ihrer Mittel und Methoden berufen kann.“ Methoden, die sich keiner wissenschaftlichen Evidenzprüfung stellen oder dabei kläglich versagen, haben keine Berechtigung im öffentlichen Gesundheitswesen. Mutigen GKVen steht frei, Angebote sinnvoller, privat zu zahlender Leistungen zu entwickeln. Pharmazeutische Hersteller sieht Grams in der Pflicht, stärker nach ethischen Werten zu arbeiten. Dazu gehört, Daten transparent zu veröffentlichen, aber auch Preise maßvoller zu gestalten. Natürlich geht es auch um Heilpraktiker. Grams hält einen weiteren Gesundheitsberuf neben Ärzten für denkbar, aber nicht ohne tiefgreifende Reformen. Im aktuellen Heilpraktikerwesen sieht die Autorin keine Zukunft. Und Ärzte sind in der Pflicht, ihre menschlich-empathischen Qualitäten auszubauen. Ob sich Probleme rund um Personalmangel und überbordende Bürokratie über Nacht beheben lassen, ist mehr als fraglich.
Als Leser mit naturwissenschaftlich-medizinischem Hintergrund bleibt man nach mehr als 300 Seiten etwas ratlos zurück. Was genau möchte uns die Autorin sagen? Grams´ fundierte Recherche zeigt zwar, wie komplex die Zusammenhänge wirklich sind und wie zahlreiche Sonderregelungen Alternativtherapien vor der harten Evidenzprüfung bewahren. Sie entlarvt auch methodische Schwächen, mit denen Anhänger alternativer Therapien ihre Methoden begründen und erklärt, warum sich Patienten gegen ihren Arzt entscheiden. Wirklich neu ist der Ansatz für Interessierte aber nicht. Die große Vision wie beim ersten Teil sucht man vergebens. Doch wer profitiert vom Buch? Auf alle Fälle Laien, die sehen, mit welch perfider Methodik Alternativmediziner pseudowissenschaftliche Theorien entwickelt haben. Ob sie sich mit der schweren Kost auseinandersetzen möchten, wird sich zeigen.