Immer wieder Ärger mit dem BMI: Vor der Implantation von Hüft- und Knieprothesen sollten übergewichtige Patienten ihr Gewicht reduzieren, sagen die einen. Die anderen fordern, die überholte Speck-Skala endlich abzuschaffen. Wer hat Recht?
Bei Knie-TEP-Implantationen an Patienten mit einem Body-Mass-Index (BMI) von über 30 besteht eine steigende Komplikationsgefahr. Ab diesem Wert gelten Erwachsene als adipös. Die Grenze von Normal- zu Übergewicht liegt bei einem BMI von 25. In Deutschland sind demnach mehr als 65 % der Männer und mehr als 50 % der Frauen übergewichtig. Mit höherem Gewicht steigen einerseits die Risiken für die Entstehung von Gelenkarthrose – bereits fünf Kilo Übergewicht verdoppeln das Risiko – und andererseits die operativen Komplikationsraten.
Genannt werden in Verbindung mit Übergewicht Wundheilungsstörungen, Infektionen und Mehrfacherkrankungen wie Herz-Kreislauf-Probleme oder Diabetes mellitus. Deshalb gibt es Orthopäden und Chirurgen, die ihren Patienten vor einer Endoprothesenimplantation eine Gewichtsreduktion empfehlen oder diese sogar zur Bedingung für den Eingriff machen. Ein BMI ab 40 (teilweise bereits ab 35) wird als Kontraindikation für die Operation angesehen.
2020 wurde eine Metaanalyse veröffentlicht, die Outcomes und Komplikationen nach Hüft-TEP-Implantationen an adipösen und nicht-adipösen Patienten verglich. Als Grenzwert galt ein BMI von 30. In einer Subgruppe wurden zudem Patienten mit einem BMI ab 40 näher betrachtet. Insgesamt wurden Daten von mehr als 580.000 adipösen und über 1,6 Millionen nicht-adipösen Menschen ausgewertet. Ab einem BMI von 30 besteht ein erhöhtes Risiko für oberflächliche und tiefe Infektionen, Dislokationen des Prothesenmaterials, Revisionen und Re-Operationen sowie Wiederaufnahmen in die Klinik. Diese Risiken steigen ab einem BMI von 40 weiter an. Adipöse Patienten haben im Vergleich zu nicht-adipösen Patienten kein erhöhtes Risiko für venöse Thromboembolien, periprothetische Frakturen, aseptische Lockerungen oder Nervenparesen. Die Autoren der Metaanalyse empfehlen eine besondere präoperative Aufklärung Übergewichtiger und postoperativ auf das Auftreten von Komplikationen zu achten.
Wie sinnvoll oder nützlich sind Untersuchungen bzw. Studien, die auf Einteilungen nach BMI basieren? Zum einen gibt es Kritik am BMI selbst. Er wird mit folgender Formel ermittelt: Körpergewicht in Kilogramm geteilt durch Körpergröße in Meter zum Quadrat (kg/m2). Dieser Quotient mit seiner Interpretation stammt aus dem 19. Jahrhundert. Er wurde vom belgischen Sozialstatistiker Adolphe Quetelet 1832 erstellt und Anfang des 20. Jahrhunderts vom österreichischen Sozialhygieniker Ignaz Kaup weiterentwickelt. Der BMI wird deshalb auch als Quetelet-Kaup-Index bezeichnet. Seiner Skalen-Einteilung liegen Daten weißer, europäischer Männer zugrunde. Wichtige Faktoren wie Alter, Geschlecht, ethnische Herkunft, Statur und Verhältnis von Fett- und Muskelmasse bleiben ebenso unberücksichtigt wie die Leistung des Herz-Kreislauf-Systems oder Vorerkrankungen, z. B. mit Wasseransammlungen im Körper.
1989 hat das National Research Center (NRC) der USA eine Modifizierung der BMI-Normwertbereiche unter Berücksichtigung von Alter und Geschlecht veröffentlicht.
Alter (Jahre)
männlich (BMI)
weiblich (BMI)
19–24
18–23
25–34
20–25
25–44
21–26
45–54
22–27
55–64
23–28
ab 65
24–29
Diese Tabelle macht deutlich, dass eine pauschale Interpretation der Übergewichtigkeit ab einem BMI von 25 nicht sinnvoll ist; sie kann allenfalls als grobes Maß gelten. Eine weitere Differenzierung kann beispielsweise mittels bioelektrischer Impedanzanalyse (BIA) vorgenommen werden, bei der über Elektroden an Händen und Füßen ein schwacher Wechselstrom (0,8 mA bei 50 kHz) durch den Körper fließt. Die ermittelten Widerstände geben Auskunft über die Fettmasse, fettfreie Körpermasse, Körperzellmasse, Muskelmasse, extrazelluläre Masse, Magermasse und das Körperwasser. Wie sich die Körperzusammensetzung auf das Gewicht auswirkt, wird an Leistungssportlern deutlich, die ihren Fettanteil minimiert und ihren Muskelanteil entsprechend ihrer Sportart und Disziplin erhöht haben. Zehnkämpfer haben relativ schlanke Beine und einen muskulösen Oberkörper, Werfer und Stoßer einen hohen Anteil an Muskel- und Körpermasse und Langstreckenläufer bewegen sich an der Grenze zum Untergewicht oder erreichen diese Skaleneinteilung.
Endokrinologin Jody Dushay hat kürzlich einen Artikel veröffentlicht, in dem sie sich mit dem BMI als Hindernis für orthopädische Eingriffe auseinandersetzt. Sie führt eine retrospektive UK-Studie aus dem Jahr 2021 an, bei der die Ergebnisse von fast 500.000 Knie-TEP-Implantationen zwischen 2005 und 2016 mit normalem und erhöhtem BMI untersucht wurden. Parameter waren: Anzahl der Patienten, die innerhalb von 90 Tagen verstarben, die nach zehn Jahren einen Revisionseingriff benötigten und Veränderungen zwischen präoperativem und 6-Monats-postoperativem Oxford-Knee-Score, der 12 Fragen zu Schmerzen, Mobilität, Fähigkeiten und Aktivitäten des täglichen Lebens umfasst. Im Ergebnis ging es Patienten mit erhöhtem BMI nach der Operation nicht wesentlich schlechter als Patienten mit normalem BMI.
Die Autorin wünscht sich die Abschaffung von BMI-Grenzwerten für orthopädische Eingriffe und spricht sich dafür aus, den Menschen als Individuum und nicht als eine Zahl auf einer Skala zu betrachten und fordert eine bessere direkte Kommunikation zwischen Orthopäden und Fachärzten wie Kardiologen oder Endokrinologen.
Bei dieser fachlichen Diskussion und Argumentation stellt sich die Frage, wie sich die deutschen Kollegen positionieren. Wie weit wird der BMI (und wenn ja, bei welchem Grenzwert?) als Kriterium für Knie- oder Hüft-TEP-Implantationen bzw. deren Verweigerung herangezogen? Welche anderen Kriterien führen zur Entscheidung, ob eine Knie- oder Hüft-TEP implantiert wird? Gibt es feste Abläufe oder Algorithmen im Klinikalltag für derartige Entscheidungen, die fast täglich getroffen werden müssen?
Bildquelle: Diana Polekhina, Unsplash