Warum fällt es vielen so schwer, weniger Fleisch zu essen – spielen die Gene eine Rolle? Eine aktuelle Studie könnte endlich eine Ausrede liefern: Zum Vegetarier muss man geboren sein!
Dass die Abkehr von übermäßigem Fleischkonsum nicht allein aus Tierwohl-, Umwelt-, Energie- und Klimagründen geschieht, sondern auch die menschliche Gesundheit eine Rolle spielt, darf trotz der Unsicherheiten von Ernährungsstudien als wissenschaftlicher Konsens angesehen werden.
Wenngleich der jährliche Pro-Kopf-Fleischverzehr in Deutschland zwischen 1991 und 2022 von ca. 64 kg auf (weiterhin hohe) 52 kg gesunken ist, tut sich ein vergleichsweise großer Bevölkerungsanteil schwer damit, die tägliche Fleischration zu streichen. Mangelnder Wille, fehlende Bereitschaft zum Genussverzicht oder keine Einsicht in die eingangs genannten Benefits werden in der Regel als entscheidende Faktoren genannt, warum die Umstellung auf eine pflanzlich dominierte Ernährung nicht gelingt. Doch tun wir den Fleischliebhabern womöglich Unrecht? Sollten sich die Ergebnisse einer kürzlich publizierten Studie bewahrheiten, hängt die Fähigkeit zum Fleischverzicht maßgeblich von einer genetischen Prädisposition ab. Oder anders gesagt: Zum Vegetarier musst du geboren sein!
… aber der Geist ist schwach!“ Auch wenn die mediale Präsenz anderes vermuten lässt, ist die Zahl sich strikt fleischlos ernährender Menschen im globalen wie im nationalen Maßstab noch immer sehr überschaubar und nur grob zu beziffern. Abgesehen vom Ausreißer Indien (ca. 25 %) liegt der vegetarische Bevölkerungsanteil in den meisten Ländern im Bereich von 10 % der Gesamtbevölkerung oder deutlich darunter. Die Anzahl an Menschen in Deutschland, die „sich selbst als Vegetarier einordnen oder als Leute, die weitgehend auf Fleisch verzichten“, lag im Jahr 2023 laut der Allensbacher Markt- und Werbeträger-Analyse bei rund 8 Millionen (ca. 9,7 %). 1,5 Millionen Menschen (ca. 1,8 %) ordneten sich als vegan oder „weitgehend auf tierische Produkte verzichtend“ ein. Die etwas ungelenke Umschreibung der „Selbsteinordnung“ und des „weitgehenden Verzichts“ lässt erahnen, dass die deutliche Beschränkung vielen Menschen doch mehr Probleme bereitet, als sie sich selbst wünschen.
Zumindest für die noch deutlich fleischaffinere US-Bevölkerung gibt es dazu auch Studiendaten (hier, hier und hier). Demnach peppen zwischen 48 und 64 % der willigen Vegetarier ihre Mahlzeiten gelegentlich, aber regelmäßig mit Fisch, rotem und weißem Fleisch auf. Auch wenn sich diese Zahlen nicht per se auf Deutschland übertragen lassen, dürften auch bei uns ein merklicher Anteil der Wannabe-Vegetarier/Veganer es nicht ganz so strikt mit dem Fleisch-/Tierproduktverzicht halten, wie sie gern würden.
Der offenkundige Zwiespalt zwischen dem Wunsch, weniger oder kein Fleisch zu verzehren und der praktischen Umsetzung motivierte ein amerikanisch-britisches Forscherteam unter Leitung von Dr. Nabeel Yaseen, emeritierter Pathologie-Professor von der Feinberg School of Medicine an der Northwestern University Chicago, sich im Humangenom auf die Suche nach einer möglichen genetischen Disposition für den erfolgreichen Fleischverzicht zu machen. Zwar liegen bereits eine Reihe von Studien vor, die auf eine genetische Komponente für die Ausbildung von Ernährungspräferenzen hindeuten (hier, hier und hier), doch fokussierten sich diese weder auf den Fleischverzehr noch auf Genomanalysen zur Identifizierung von Genloci, deren Allele mit Nahrungspräferenzen assoziiert sind.
Für ihre genomweite Assoziationsstudie screenten die Wissenschaftler aus der rund 500.000 Humangenome umfassenden UK-Biobank gut 5.300 Personen, die seit mindestens einem Jahr strikt vegetarisch lebten (davon 66 % weiblich) und verglichen deren DNA-Sequenzen mit denen von fast 330.000 Kontrollpersonen (davon 54 % weiblich). Insgesamt identifizierten die Analysten auf der DNA 201 sogenannte „Einzelnukleotid-Polymorphismen (SNP)“.
Das sind einzelne DNA-Basenpaare, die eine hohe Variabilität aufweisen. Bei 200 dieser SNP fand sich in der Vegetarierkohorte eine subsignifikante Häufung bestimmter Basenkonstellationen. Bei einem SNP („rs72884519“) auf Chromosom 18 war diese Vegetarismus-Assoziation statistisch signifikant. Im Bereich dieses SNP wurden vier Gene – TMEM241, RIOK3, NPC1, RMC1 – transkribiert, von denen drei ihrerseits statistisch signifikant mit dem Vegetarismus in Verbindung stehen. Sieben Gene verfehlten das Signifikanzniveau nur knapp (neuerdings als „suggestive Signifikanz“ bezeichnet). Für weitere 23 Gene wurde eine nicht signifikante Vegetarismus-Verbindung abgeleitet. Die Produkte eines Großteils dieser insgesamt 34 Gene – einschließlich der im Bereich des SNP rs72884519 gelegenen – erfüllen wichtige Funktionen im Fett- und Gehirnstoffwechsel. So liefert beispielsweise NPC1 den Code für ein intrazelluläres Cholesterin-Transporterprotein, das RMC1-Genprodukt wird für die zelluläre LDL-Aufnahme benötigt und TMEM241 codiert einen in den Lipidmetabolismus involvierten Nukleotidzucker-Transporter.
Fette zählen zu den Nahrungskomponenten mit den größten Unterschieden zwischen Vertretern tierischer und pflanzlicher Herkunft. Neben dem ausschließlich von tierischen Organismen produzierten Cholesterin betreffen diese Unterschiede vor allem den Sättigungsgrad der in Triglyceriden verbauten Fettsäuren (FS). Die Autoren der Studie leiten aus der bei den strikten Vegetariern ermittelten, zum Teil signifikanten Häufung von Genvarianten, die in den Lipid- und Hirnstoffwechsel involviert sind, die These ab, dass zur vegetarischen Lebensweise befähigte Personen über Genvarianten verfügen, die es ihnen ermöglichen, spezielle bioaktive Fettkomponenten, die von Fleisch geliefert werden, endogen zu synthetisieren. Das verlangt nach Erklärungen. Die Studienautoren beziehen sich auf eine Arbeit von Kothapalli et al., in der es um einen genetisch bedingten Unterschied zwischen Vegetariern und Nicht-Vegetariern in Bezug auf den Stoffwechsel einer bestimmten Klasse tierischer FS geht. Es handelt sich um langkettige, mehrfach ungesättigte FS, wie zum Beispiel die semiessenzielle Omega-6-Arachidonsäure.
Als Bausteine von Membran-Phospholipiden und Sphingolipiden erfüllen diese FS wichtige Funktionen bei der Signaltransduktion an Zellmembranen, sind aber auch in zelluläre Entzündungsprozesse und die Entwicklung/Funktion des Nervensystems involviert. Der normale Bezugsweg für diese Klasse von FS führt über den Verzehr tierischer Fette. Doch gibt es auch die Möglichkeit der endogenen Eigensynthese über einen Stoffwechselweg, der durch sogenannte Fettsäure-Desaturasen (FADS 1 und 2) katalysiert wird. Das Team von Kothapalli konnte nachweisen, dass eine spezielle Mutation (eine Insertion in das FADS2-Gen) die endogene Synthese besagter FS deutlich erhöht und daher unabhängiger von der alimentären Aufnahme tierischer Fette macht.
In vegetarisch lebenden Populationen könnte diese Mutation selektiert worden sein. Auf Basis dieser und der aus den eigenen Studiendaten gewonnenen Erkenntnisse formulieren die Autoren der aktuellen Studie nun die selbstbekennend spekulative These, dass derartige, genetisch manifestierte Besonderheiten im Fettstoffwechsel und deren Effekte auf Gehirnaktivitäten maßgebend Einfluss auf die Fähigkeit nehmen, vegetarische Nahrung zu bevorzugen bzw. sich dauerhaft vegetarisch ernähren zu können.
Sicher reicht diese Einzelstudie bei Weitem nicht für eine Beurteilung aus, ob der „schwache Geist“ beim Fleischverzicht wirklich die Folge einer genetischen Konstellation ist. Bedarf es für einen physisch wie psychisch gesunden Umstieg auf eine vegetarische, besonders aber auf eine jeglicher Nahrung tierischer Provenienz entsagende, vegane Ernährungsweise spezieller Mutationen im eigenen Genom?
Vorerst bleibt das eine studienbasierte Spekulation. Mit Blick auf unsere jagenden Urahnen, für die Fleisch ein das Überleben sichernder Energie- und Nährstofflieferant war, ergibt eine genetisch verankerte Fleischvorliebe Sinn. Eine zum Fleischverzicht motivierende Veranlagung hätte damals einen Selektionsnachteil bedeutet. Im heutigen, von omnipräsentem Nahrungsüberfluss und niedrigem Energieverbrauch gekennzeichneten Zeitalter geht der Selektionsdruck in eine andere Richtung und begünstigt all jene, denen Selbstbeschränkung leichter fällt. Um die Verankerung dieser Fähigkeit im Humangenom zu veri- oder falsifizieren, bedarf es sicher noch einer Vielzahl weiterer molekulargenetischer Analysen, die nach Möglichkeit auch zwischen vegetarischen und veganen Genomen differenziert, was in der Studie leider nicht erfolgt ist.
Bildquelle: Erstellt mit DALL-E