Schon lange stehen ärztliche Vergütungsinstrumente in der Kritik. Standesvertreter fordern ein höheres Niveau beim einheitlichen Bewertungsmaßstab. Auch die morbiditätsorientierte Gesamtvergütung ist nicht frei von Zweifeln. Nun erregen neue Gutachten Aufsehen.
Das vertragsärztliche Vergütungssystem ruht auf mehreren Säulen. Alles beginnt mit der Gesamtvergütung: eine Summe, die Krankenkassen an Kassenärztliche Vereinigungen entrichten. Als Basis abrechnungsfähiger Leistungen in Punkten dient der einheitliche Bewertungsmaßstab (EBM). KVen errechnen das ärztliche Honorar, indem sie neben dem EBM ihren Verteilungsmaßstab anwenden. Darin wird die Aufteilung der Gesamtvergütung unter Ärzten beziehungsweise Arztgruppen geregelt. Morbiditätsabhängige Anteile kommen einerseits über die Gesamtvergütung von Krankenversicherungen zum Tragen. Andererseits erhalten Arztgruppen und Ärzte morbiditätsabhängige Regelleistungsvolumina. Mehrere Stellschrauben dieses Systems stehen jetzt in der Kritik.
Der aktuellste Aspekt: Mitte August beginnen Honorarverhandlungen für Vertragsärzte und Vertragspsychotherapeuten. Hier will die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) neue Forderungen einbringen. Ziel ist, kalkulatorische Arztlöhne anzuheben. Zum Hintergrund: Der EBM geht auf Annahmen des Jahres 2008 zurück. Damals war die Idee, dass niedergelassene Kollegen, die 51 Stunden pro Woche GKV-Patienten versorgen, nach Abzug aller Betriebskosten ein Oberarztgehalt von 105.000 Euro zur Verfügung steht. Dieses Honorar hat sich bei Krankenhäusern durch Tarifanpassungen längst erhöht. Mittlerweile seien es laut Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der KBV, schon 133.000 Euro. Er rechnet mit drei Milliarden Euro, um entsprechende Differenzen auszugleichen. Rückendeckung kommt vom Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland: Dominik von Stillfried und Thomas Czihal schreiben, das Niveau im EBM reiche nicht aus, um Referenzeinkommen zu erhalten. Vielmehr fordern sie, Arbeitszeiten angemessen zu bewerten. Und Dirk Heinrichs, Vorsitzender des NAV-Virchow-Bundes, mahnt, im ambulanten Bereich müssten Verdienstmöglichkeiten für Praxisärzte attraktiver werden, um nicht ins „Fachkräfte-Abseits“ zu geraten. Krankenkassen kritisieren Zahlen der KBV als „rhetorischen Kniff“, um Arztlöhne künstlich in die Höhe zu treiben.
Jetzt hat sich das IGES-Institut auch mit morbiditätsorientierten Parametern befasst. Die letzte Reform führte in 2008 zu regional äußerst unterschiedlichen Situationen. Manche KVen setzten hohe Punktwerte an, begrenzten aber die Leistung. Andere kalkulierten mit niedrigeren Punktwerten und höheren Mengen. Acht KVen, die in der Arbeitsgemeinschaft LAVA – Länderübergreifender Angemessener Versorgungsanspruch – gemeinsame Interessen verfolgen, fordern Morbiditätsstrukturmessungen, um die Gesamtvergütung festzulegen. Entsprechende Parameter seien stark von der Methodik abhängig, heißt es vom IGES. Forscher wittern hier einen möglichen Bias. Sie sprechen sich für die Beibehaltung der aktuellen Systematik aus. Nimmt man den Bundesdurchschnitt als Richtschnur, würden laut IGES „tatsächliche Versorgungsrealitäten ignoriert“, und es käme zu einer „finanziellen Über- oder Unterausstattung der KV-Region“. Am Beispiel Sachsen-Anhalts zeigen Wissenschaftler, dass die Gesamtvergütung ihrer Meinung nach nicht zu niedrig bemessen worden sei. Damit nicht genug: Im besagten Kammerbezirk lagen GKV-Honorare 14 Prozent über dem Wert aller anderen Regionen. Trotzdem reichte dieser Anreiz nicht aus, um Kollegen in strukturschwache Regionen zu locken. Kritik an diesen Überlegungen kommt vom Hartmannbund. Dessen Vorsitzender Dr. Klaus Reinhard spricht von einer „pseudowissenschaftlichen Bewertung historisch gewachsener Strukturen im Auftrag der Krankenkassen, um „die Konvergenz zu Grabe zu tragen“.
In der Zwischenzeit überrascht die Techniker Krankenkasse (TK) nicht ganz uneigennützig mit einem neuen Vergütungssystem, das ebenfalls vom IGES-Institut entwickelt worden ist. Ökonomen schlagen vor, Pauschalen durch Einzelleistungsvergütungen zu ersetzen. Sie wollen Fixkosten abtrennen und nur bis zu einem Maximalbetrag erstatten. Variable Kosten, also Arztlöhne selbst, blieben dem Modell zufolge ohne Deckelung. TK-Vorstand Thomas Ballast hofft, das System würde „Anreize für Ärzte mildern, leichtere Fälle gegenüber schwereren zu bevorzugen“. Ärzten verspricht er „mehr Transparenz und Planbarkeit“. Einen Anstieg von ärztlichen Arbeitsstunden erwarten Mathematiker nicht. Sie führen an, bereits heute gäbe es Ärzte, die weniger als 20 beziehungsweise mehr als 65 Stunden pro Woche arbeiteten. Beide Gruppen wollten oder könnten ihr Pensum nicht weiter ausdehnen. Ballast selbst hofft, mit einem neuen Anreizsystem quasi en passant weitere Probleme zu lösen, nämlich vermeintliche Probleme bei der Terminvergabe. Momentan laufen Gespräche für eine Testphase. Ziel ist, im Bereich einer KV alle Krankenkassen zu beteiligen.