Für Amyotrophe Lateralsklerose gibt es keine wirksame Behandlung und Betroffene versterben meist innerhalb von fünf Jahren. Doch nun wurde ein Molekül entdeckt, dass das Absterben der Motoneuronen verhindern kann. Lest hier mehr.
Ein neuer pharmakologischer Hemmstoff kann in einen zentralen Zelltod-Mechanismus eingreifen, der für das Absterben von Motoneuronen verantwortlich und damit wichtig für das Fortschreiten der Motoneuronenkrankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist. Ein Forscherteam um Prof. Hilmar Bading, Neurobiologe an der Universität Heidelberg, untersuchte ein neuroprotektives Molekül, das zu einer neuen Wirkstoffklasse gehört. Es ist in der Lage, die Wechselwirkungen bestimmter Proteine zu hemmen und wurde bereits erfolgreich in einem Mausmodell der ALS und in Hirnorganoiden von ALS-Patienten getestet. „Auf dem langen Weg zu einer wirksamen Behandlung von ALS-Patienten können diese Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung einen wichtigen Schritt nach vorne bedeuten“, sagt Bading.
ALS ist eine degenerative Erkrankung des Nervensystems, die insbesondere die Motoneuronen betrifft und schädigt. Mit dem Fortschreiten der Krankheit sterben die Nervenzellen ab, die willkürliche Muskelbewegungen steuern. Dies führt zu einer fortschreitenden Verkümmerung der Muskeln, die für das Bewegen und Sprechen, aber auch für das Essen und Atmen verantwortlich sind. Bis heute, so Bading, gibt es keine wirksame medikamentöse Behandlung für ALS-Patienten, die in den meisten Fällen innerhalb von zwei bis fünf Jahren nach der Diagnose sterben.
Das Molekül FP802, das die Heidelberger Wissenschaftler in der Studie verwendeten, gehört zu einer neuen pharmakologischen Klasse von Medikamenten. Es handelt sich um so genannte TwinF-Interface-Inhibitoren, die von Bading und seinem Team am Interdisziplinären Zentrum für Neurowissenschaften (IZN) der Universität Heidelberg entdeckt wurden. Diese Inhibitoren stören die physikalischen Wechselwirkungen zweier Ionenkanalproteine mit den Namen NMDA-Rezeptor und TRPM4, die aufgrund einer so genannten Proteintasche, von den Heidelberger Wissenschaftlern „TwinF“ genannt, einen Protein-Protein-Komplex bilden.
NMDA-Rezeptoren befinden sich auf der Zelloberfläche von Nervenzellen und sind sowohl in den Synapsen, den Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen, als auch außerhalb dieser Kontaktstellen vorhanden. Sie werden durch einen biochemischen Botenstoff, den Neurotransmitter Glutamat, aktiviert. Die Stimulation der synaptischen NMDA-Rezeptoren im Gehirn trägt zu Lern- und Gedächtnisprozessen sowie zum Schutz der Nervenzellen bei. Außerhalb der Synapsen führt die Aktivierung dieser Rezeptoren jedoch zu einer Schädigung der Nervenzellen und zu deren Absterben. Die Gründe dafür hat das Team um Bading in einer früheren Studie untersucht. Sie fanden heraus, dass TRPM4 den extrasynaptischen NMDA-Rezeptoren im Gehirn toxische Eigenschaften verleiht. Zusammen bilden diese beiden Proteine einen „Todeskomplex“, der auch bei ALS eine Rolle spielt.
Das neuroprotektive Molekül FP802 bindet an die TwinF-Protein-Tasche von TRPM4, blockiert die Kontaktflächen der interagierenden Proteine und unterbricht so den tödlichen Komplex aus NMDA-Rezeptoren und TRPM4. Die Heidelberger Wissenschaftler haben dieses neue Wirkstoffprinzip sowohl an einem ALS-Mausmodell als auch an Hirnorganoiden von ALS-Patienten untersucht. „Mit diesem völlig neuen Therapiekonzept zur Bekämpfung neurodegenerativer Erkrankungen konnten wir bemerkenswerte Ergebnisse erzielen“, berichtet Bading. Der Wissenschaftler erklärt, dass es möglich war, den Zelltod und damit den Verlust der spinalen Motoneuronen von Mäusen zu verhindern, indem man ihnen das Neuroprotektivum verabreichte. Diese Behandlung verbesserte die motorischen Fähigkeiten, milderte das Fortschreiten der Krankheit und verlängerte die Lebensspanne der Tiere.
„Die Entdeckung dieser neuen pharmakologischen Wirkstoffklasse eröffnet einen vielversprechenden Weg zur Bekämpfung der ALS. Ein langfristiges Ziel ist die Entwicklung von TwinF-Interface-Inhibitoren für den Einsatz bei Patienten“, sagt Bading. In enger Zusammenarbeit mit dem Startup FundaMental Pharma, einem Biotech-Ableger der IZN-Abteilung Neurobiologie, soll das Molekül FP802 in den nächsten Jahren für den Einsatz am Menschen optimiert und in klinischen Studien auf seine Wirksamkeit getestet werden.
Dieser Beitrag basiert auf einer Pressemitteilung der Universität Heidelberg. Die Originalstudie haben wir euch hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: Alina Grubnyak, Unsplash