Viele Patienten brauchen zeitnah eine Therapie, warten aber sehr lange auf einen Platz – das gilt auch bei Borderline. Können DiGA im Mental-Health-Bereich die Versorgungslücke schließen oder sind sie nur teure Spielzeuge?
Digitale Gesundheitsanwendungen sind auf dem aufsteigenden Ast. Stand Februar 2024 sind im DiGA-Verzeichnis des BfArM 56 Anwendungen registriert. Davon sind allerdings nur 31 Anwendungen dauerhaft aufgenommen – bei vielen lässt also der tatsächliche Wirknachweis noch auf sich warten. Eine DiGA kann längstens für 24 Monate vorläufig in das Verzeichnis aufgenommen werden. Wenn in dieser Zeit ein positiver Versorgungsnachweis erbracht werden kann, können die Anwendungen dauerhaft aufgenommen werden. Besonders im Mental Health Bereich, in dem die Versorgungslücke bekanntermaßen groß ist, sollen sie den Patienten helfen, die Zeit bis zur Therapie zu überbrücken oder begleitend zur Therapie eingesetzt werden.
Insgesamt sind aktuell 25 DiGA unter der Rubrik Psyche verfügbar, davon wurden 16 bereits dauerhaft aufgenommen. Wirft man einen genaueren Blick ins DiGA-Verzeichnis, findet man im Mental Health Bereich vor allem Apps zur unterstützenden Behandlung von Depression und Angststörungen. Der Behandlungsfokus von DiGA wie deprexis® oder edupression® liegt häufig auf leichten bis mittelgradigen depressiven Episoden bis zu schweren depressiven Episoden ohne psychotische Symptomatik sowie Phobien und Angststörungen. Außerhalb dieses Spektrums finden sich nur wenige Ausnahmen. Erwähnenswert wären hier beispielsweise HelloBetter Vaginismus Plus® oder Anwendungen zur unterstützenden Behandlung von Essstörungen wie die selfapy® Online-Kurse bei Binge-Eating-Disorder oder Bulimia nervosa.
Auch, wenn es mittlerweile einige Versuche gibt, DiGA für komplexere Diagnosen zu entwickeln, stehen doch Anwendungen für Krankheiten mit einer besonders hohen Prävalenz und vergleichsweise einfacheren Diagnose – wie eben Depression und Angststörungen – besonders im Fokus. Das macht einerseits Sinn, denn es gibt natürlich bei diesen Störungsbildern auch die meisten Betroffenen. Andererseits fallen so Patienten durchs Raster, die ebenfalls lange auf eine Behandlung warten und eventuell von einer DiGA profitieren würden. Aber liegt es wirklich nur an der Anzahl der betroffenen Patienten, dass es bisher wenige Anwendungen für komplexere Störungsbilder gibt?
„Ich finde das sehr bezeichnend für die allgemeine Versorgungslage psychischer Behandlungen“, ordnet Dr. Gitta Jacob, psychologische Psychotherapeutin und leitende Entwicklerin der Borderline-DiGA priovi® im Gespräch mit DocCheck News die Situation ein. „Wenn Sie als Patient mit Mental Health Problemen eine Therapie suchen, wird es Ihnen am leichtesten fallen, einen Therapeuten zu finden, der Depression und Angststörungen behandelt. Das sind einfach auch die Krankheitsbilder, bei denen die Therapie meist am einfachsten ist.“
Jacob und ihr Team arbeiten aktuell an der dauerhaften Zulassung der ersten DiGA für Borderline-Persönlichkeitsstörung. Die vorläufige Aufnahme ins DiGA-Verzeichnis gab es für priovi® im Frühling letzten Jahres. Aktuell werden die positiven Versorgungsnachweise reviewt. Jacob geht basierend auf ihren Forschungsergebnissen davon aus, dass die App danach dauerhaft ins Verzeichnis aufgenommen wird. Dass es bisher keine DiGA für Borderline-Patienten gab, erklärt Jacob mit dem spezifischen Störungsbild und der dadurch wesentlich anspruchsvolleren Behandlung.
Was sicherlich alle DiGA im Mental-Health-Bereich gemeinsam haben, ist die Wichtigkeit, das behandelte Störungsbild zu verstehen. So sind DiGA zu Depressionsbehandlungen oft darauf ausgelegt, einen Alltagsrhythmus zu festigen, Symptomverläufe zu tracken, Stimmungstagebücher zu führen oder die Patienten zu aktivieren – oft basierend auf den Ansätzen der kognitiven Verhaltenstherapie. „Das wird bei Borderline-Patienten nicht funktionieren“ sagt Jacob. Ihre Borderline-DiGA soll ein Expertengespräch simulieren. Die App klärt dabei über das Störungsbild auf, erklärt, was eine Borderline-Persönlichkeitsstörung überhaupt ist, und es werden Symptome abgefragt.
„Die App reagiert, wie ein Experte auch reagieren würde. Wenn der Patient bei einer Information sagt, das hätte er nicht verstanden, wird die Information nochmal erklärt. Wenn er sagt, dass er sich ganz sicher ist, an einem bestimmten Symptom zu leiden – beispielsweise, weil er das schon einmal mit einem Arzt besprochen hat – wird trotzdem nochmal nachgefragt“, erklärt Jacob die Hauptfunktion der DiGA. „Es wird abgefragt, welche Probleme die Patienten haben. Leidet ein Patient beispielsweise unter extremer Impulsivität, resultieren daraus viele Folgeprobleme – wie häufiger Drogenkonsum oder große unüberlegte Investitionen. Die App kann auf diese Gefahren aufmerksam machen und die Patienten aufklären.“
Wo genau sich Mental-Health-DiGA im Versorgungsdschungel einordnen, ist oft nicht so ganz klar. Sollen sie als begleitende Tools zu einer Therapie funktionieren oder als eigenständige Option? Bei ersterem wäre der immer wieder groß angepriesene Vorteil der DiGA – nämlich die Versorgungslücke im Mental-Health-Bereich zu schließen – dahin. Als alleinstehende Option sind viele DiGA aber nicht geeignet. Das sieht auch Jacob so.
„In der Regel werden solche Apps natürlich von Fachpersonen verschrieben. Eine Borderline-Diagnose muss ja auch zuerst gestellt werden.“ Eine wirkliche Hilfe beim Schließen der Versorgungslücke kann eine solche App also nicht sein, der Facharzt- oder Therapeutenkontakt muss jedenfalls vorher stattgefunden haben. Wo DiGA allerdings ansetzen können, ist beim Überbrücken zwischen dem Zeitpunkt der Diagnosestellung und dem ersten Therapietermin. „Priovi® ist beispielsweise verschreibbar, wenn Patienten in die Sprechstunde eines Psychotherapeuten kommen und bald eine Diagnose kriegen, aber lange auf die Behandlung warten müssen. Oder wenn Patienten aus einem Klinikaufenthalt entlassen werden und auf weiterführende Therapie warten.“
Außerdem könnte die Borderline-DiGA, laut Jacob, zur Therapietreue beitragen. Das sei bisher aber nicht durch Studien beleget. „Die klinische Überlegung ist – und das ist auch das, was Patienten berichtet haben, die Schematherapie bekamen und zusätzlich die App genutzt haben – dass Patienten viele Dinge mit der DiGA nachbesprechen und vertiefen können und somit eher dranbleiben“, so Jacob. Ein weiterer Vorteil sei, dass Patienten peinliche Themen oftmals lieber in der App besprechen als direkt mit dem Therapeuten.
Aber natürlich stößt ein digitaler Therapeut, wie er bei der Borderline-DiGA implementiert ist, auch auf seine Grenzen. Ähnlich wie Depressions- oder Angststörungs-DiGA, muss klar eine Grenze gezogen werden, wenn Patienten akut gefährdet sind oder sofort therapeutische Hilfe benötigen. Viele vermeintliche Krisen könnten durch DiGA entschärft werden, aber wenn ein Patient nicht für seine eigene oder die Sicherheit anderer garantieren kann, wird an die jeweiligen Notfallsysteme verwiesen.
Mit der angestrebten Digitalisierung des deutschen Gesundheitssystems sollen auch DiGA aller Art in Zukunft mehr Bedeutung zukommen. „Wir sehen in DiGA potenziell innovative Lösungen, wie die gesundheitliche Versorgung der Versicherten in bestimmten Konstellationen sinnvoll unterstützt werden kann“, sagt Stefanie Stoff-Ahnis, Vorstand beim GKV-Spitzenverband. In der Regelversorgung seien die Apps aber noch nicht angekommen. „Außerdem sehen wir insbesondere im Zusammenhang mit der willkürlichen Preisbildung und dem oftmals mangelnden Nutzennachweis bei DiGA erheblichen regulatorischen Nachbesserungsbedarf“, konkludiert Stoff-Ahnis.
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