Wer ohne Papiere in Deutschland ist und krank wird, hat ein Problem: Bei Behandlung droht eine sofortige Abschiebung. Das Medinetz Leipzig will diesen Menschen Zugang zu einer guten medizinischen Versorgung ermöglichen – ohne Angst vor Abschiebung.
Ein Flüchtling, der in Deutschland Asyl sucht, muss, nach aktuellem Stand, geschlagene vier Jahre darauf warten, einen Zugang zu medizinischer Versorgung zu bekommen, die mit derjenigen deutscher Staatsbürger vergleichbar ist. Damit befindet sich Deutschland europaweit auf einem zweifelhaften ersten Platz, was die zeitliche Beschränkung des Zugangs zu regulärer medizinischer Versorgung betrifft. Das Asylbewerber-Leistungsgesetz sieht vor, dass vor Ablauf dieser 48 Monate nur dann medizinische Eingriffe bezahlt werden, wenn es sich um akute oder schmerzhafte Erkrankungen (Asylbewerber-Leistungsgsetz §4) handelt. Neben den ca. 85.000 Menschen, die in Deutschland Asyl beantragen oder geduldet sind, halten sich nach Schätzungen aber weitere 200.000 bis 600.000 Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, sogenannte Menschen ohne Papiere, in Deutschland auf. Diese können sich zwar auf der gleichen Grundlage wie Asylbewerber behandeln lassen, ihnen droht dann aber die Abschiebung. Grund dafür ist, dass das Sozialamt, welches die Kosten für die Behandlung übernimmt, dazu verpflichtet ist, diese Menschen der Polizei oder der Ausländerbehörde zu melden. Die Bundesärztekammer vertritt seit Jahren die Meinung, dass das nicht sein darf. Es müsse einen gleichberechtigten Zugang zu grundlegenden medizinischen Leistungen, ohne die Angst vor Abschiebung, für alle in Deutschland lebenden Menschen geben. Einen Durchbruch schien es 2012 zu geben, als das Bundesverfassungsgericht in aller Deutlichkeit verlauten ließ, die im Grundgesetz „garantierte Menschenwürde […] migrationspolitisch nicht zu relativieren“. Damit erklärte das Gericht eine Behandlung von Menschen unterhalb des Existenzminimums und damit die Asylgesetzgebung in Deutschland mit ihren Vorschriften zur Gesundheitsversorgung für verfassungswidrig. Seitdem wurden zwar die Sätze, die ein Asylbewerber erhält, denen von Hartz IV-Empfängern angeglichen, aber im Bereich der Gesundheitsversorgung kam es kaum zu Verbesserungen.
Es ist Dienstag, das Medinetz Leipzig hat Sprechstunde. Nele und ein Kollege sind Medizinstudenten, die ehrenamtlich für das Medinetz Leipzig arbeiten. Sie sind heute dafür eingeteilt, die „illegalisierten“ Patienten, die vorstellig werden, zu betreuen. Um 16 Uhr hängen Sie das Sprechstundenschild an die schwere Holztür des Büros in der Leipziger Südvorstadt. Die Räumlichkeiten, ein Altbau mit Fischgrätenparkett in einer alten Stadtvilla, teilt sich das Medinetz mit anderen Organisationen, die in der interkulturellen Verständigung tätig sind: Ein spärlich eingerichteter Raum. Einige Ordner und eine Kartei mit Ärzten, mit denen das Medinetz zusammenarbeitet, liegen auf dem Tisch. Es ist ruhig heute, erst nach einer Stunde kommt die erste und einzige Patientin, eine gepflegte Frau, die mit ihrem Säugling in einem quietschgelben Tragekorb hereinkommt. Ich werde hinausgebeten, denn obwohl die Patienten beim Medinetz anonym bleiben dürfen, wird hier großer Wert darauf gelegt, das Vertrauensverhältnis zu den Patienten zu wahren. Nach zwanzig Minuten verlässt die Patientin das „Sprechzimmer“, sie kann jetzt ganz ohne Versicherung zum Arzt gehen. Vor dem Plenum der Gruppe, das fünfzehn Minuten nach Ende der Sprechzeit beginnt, beantwortet mir Nele einige Fragen: DocCheck: Nele, wofür setzt Ihr Euch ein? Nele: Entstanden ist die Medinetz-Arbeit aus dem Gedanken heraus, Menschen ohne Papieren einen Zugang zur Gesundheitsversorgung zu ermöglichen, der in der Praxis nicht existiert. Die vorhandenen Angebote nutzt aus Angst vor Abschiebung niemand. Um diese Lücke zu füllen, haben wir uns sozusagen als Provisorium gegründet. Dabei waren die Medinetze anderer Städte, beispielsweise Berlin, Vorbilder. DocCheck: Was motiviert Euch für Eure Arbeit? Nele: Wenn man tatsächlich mal einen Patienten mitbetreut und festgestellt hat, wie viel davon abhängt, dass er einen Termin bei einem Arzt vermittelt bekommt, dann hängt man sich schon in die Arbeit. Und die Dankbarkeit der Menschen dafür, dass sich überhaupt jemand kümmert, ist natürlich auch eine Riesenmotivation. DocCheck: Wie sieht Eure Arbeit denn im Detail aus? Nele: Wir haben eine wöchentliche Sprechstunde, in der die Menschen, die medizinische Versorgung brauchen, sich vorstellen können. Sie erzählen uns dann, was sie für ein gesundheitliches Problem haben und wir überlegen, in welche Fachrichtung der jeweilige Patient überwiesen werden sollte. Möglichst noch in der Sprechstunde vermitteln wir dann einen Termin, geben einen Überweisungsschein mit und organisieren gegebenenfalls noch einen Dolmetscher. DocCheck: Wozu denn ein Überweisungsschein? Nele: Der Überweisungsschein ist eher ein informelles Dokument. Auf dem notieren wir den Termin und eine kurze Information darüber, ob und wie viele Kosten wir übernehmen. Wir hatten einige Male den Fall, dass sich Patienten einfach bei einem Arzt vorgestellt haben und uns dann unerwartet eine Rechnung erreichte. Dem wollen wir damit vorbeugen. DocCheck: Und darüber hinaus? Macht Ihr noch Arbeit in anderem Kontext? Nele: Ja, wir versuchen natürlich ständig, das Netz an behandelnden Ärzten und Krankenhäusern zu erweitern und bemühen uns um Öffentlichkeitsarbeit: Wir werben auf Straßenfesten und informieren in Asylbewerber-Unterkünften über unsere Arbeit. Und dann gibt es noch den Zweig der politischen Arbeit: Wie wir ja immer betonen, kann das Medinetz nur eine Übergangslösung sein. Eigentlich sollte das Sozialamt die Kosten tragen und den Zugang zu medizinischer Versorgung so gewährleisten, dass die Menschen ihn auch wirklich in Anspruch nehmen können. Und für all das muss sich die Gesetzgebung ändern. DocCheck: Arbeitet Ihr mit anderen Institutionen, wie zum Beispiel dem Flüchtlingsrat, zusammen? Nele: Ursprünglich waren wir mal in den Räumlichkeiten des Flüchtlingsrats und natürlich steht man bei Bedarf noch in Kontakt. Darüber hinaus arbeiten wir mit verschiedenen antirassistischen Gruppen und Vereinen, wie dem Machtlos e.V. und Caktus e.V., zusammen. DocCheck: Und wie sieht die Zusammenarbeit mit der Stadt aus? Nele: Wir sind in Gesprächen mit der Stadt, und wohnen zum Teil verschiedenen Ausschüssen bei, um die rechtliche Lage mitzugestalten. Trotzdem, ich formuliere das mal vorsichtig, scheint es oftmals wenig Interesse an einer Verbesserung der Lage zu geben. DocCheck: Hat sich die Situation für „Illegale“ denn nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18.07.2012 verbessert, in dem klar gestellt wurde, dass es keine Differenzierung in der Zuteilung von existenzsichernden Sozialleistungen geben darf, die sich auf den Aufenthaltsstatus gründet? Nele: Unseres Ermessens nach nicht. Zudem wurde nach dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 30.10.2013 sogar noch die Notfallabrechnung erschwert. Seitdem ist es für die Krankenhäuser nicht mehr möglich, sich die Kosten für die Behandlung von Menschen ohne Papiere im Nachhinein von den Sozialämtern erstatten zu lassen. DocCheck: Gibt es rechtliche Probleme für Euch oder die behandelnden Ärzte aufgrund Eures Engagements? Nele: Nein, das nicht. Was wir tun, ist, im Grunde genommen, Hilfeleistung oder zivilgesellschaftliches Engagement. Nichts von unserer Arbeit erfüllt irgendwelche Straftatbestände. Aber in der Tat haben Ärzte oft Angst, dass sie Probleme bekommen, wenn sie Patienten ohne Papiere behandeln. Es ist eine unserer Aufgaben, diese Angst auszuräumen. DocCheck: Wie finanziert Ihr Euch? Nele: Wir finanzieren uns vor allem durch Spenden, allerdings nicht von Parteien oder Kirchen, nehmen aber auch einen kleinen Mitgliedsbeitrag von den Freiwilligen, die bei uns Patienten vermitteln. Das Geld, das wir so einnehmen, brauchen wir für Materialkosten bei Behandlungen, OP-Kosten, insbesondere bei Geburten, die sehr teuer sind und im Einzelfall auch für Arztrechnungen. DocCheck: Seid Ihr nur Medizinstudenten? Nele: Nein, bei uns treffen sich zwar vor allem Medizinstudenten, aber auch Studierende anderer Fachrichtungen, Berufstätige und andere Interessierte. DocCheck: Gab es schon einmal Probleme, weil es an Sachverstand in der Sprechstunde fehlte? Nele: Nein, meist ist zudem aber auch mindestens ein Mediziner in der Sprechstunde. DocCheck: Eine letzte Frage: Was treibt Euch im Moment um? Nele: Momentan diskutieren wir, ob wir unsere Dienste auch „Nicht-Illegalisierten“ anbieten... DocCheck: Da müssen wir nochmal nachhaken. Also beispielsweise EU-Bürger, die aus ihrem Heimatland keine Versicherung mitbringen? Nele: Genau, sie sind ja legal hier, fallen aber durch das Raster, weil sie keine Versicherung haben. Aber da wir die Spenden und Ärzte für „Illegalisierte“ angeworben haben, gibt es eine Menge Dinge zu klären, bevor wir damit beginnen können. Vor dem Hintergrund einer solch restriktiven Gesetzgebung in puncto Versorgung von Flüchtlingen in Deutschland erscheint die Arbeit, die die Freiwilligen des Medinetzes in Leipzig machen, noch einmal wichtiger. Auch die Politik hat den Handlungsbedarf erkannt. Momentan kursiert ein Entwurf zu einem reformierten Asylbewerber-Leistungsgesetz, an dem das Bundesministerium für Arbeit und Soziales arbeitet. Dieser soll umsetzen, was das Bundesverfassungsgericht schon 2012 gefordert hat, nämlich eine Behandlung von Asylbewerbern und Flüchtlingen, die sich am Existenzminimum orientiert. Dass dieser Entwurf grundlegende Verbesserungen für die medizinische Versorgung von Menschen ohne Papiere bringt, wird allerdings vielfach bezweifelt. Es scheint, es ist noch ein weiter Weg, bis das Medinetz Leipzig, das sich ja eigentlich als Provisorium gegründet hatte, seine Arbeit niederlegen kann.