Arterielle Hypertonie ist keine Seltenheit – und könnte Betroffene zu Neurotikern machen. Oder ist es doch eher umgekehrt? Warum diese Frage Kardiologen bewegt.
In Deutschland leiden etwa 20 bis 30 Millionen Bürger – und damit jeder dritte Erwachsene – laut Angaben des Robert-Koch-Instituts an Bluthochdruck. Ein hoher Blutdruck ist ein führender Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und wird vermutlich mit psychologischen Faktoren in Verbindung gebracht; so weit, so klar. Allerdings sind die Zusammenhänge zwischen einer Hypertonie und persönlichem Wohlbefinden bislang nicht vollständig geklärt.
Eine Studie von Lei Cai, erschienen im Fachblatt General Psychiatry, untersucht die genetischen Kausalzusammenhänge zwischen Blutdruck und Angstzuständen, depressiven Symptomen, Neurotizismus und subjektivem Wohlbefinden. Um den Zusammenhang von Herzkreislaufsystem und Psyche ohne den Einfluss verzerrender Faktoren untersuchen zu können, verwendete das Forscherteam die Mendelsche Randomisierung. Diese Methode der Epidemiologie und Biostatistik wird für nicht-experimentelle Studien zur Bestimmung des Einflusses veränderlicher Risikofaktoren auf Krankheiten unter Verwendung der Variation von Genen bekannter Funktion verwendet. In diesem Fall war es der Blutdruck, um genetische Beweise zu finden, die eine kausale Beziehung stützen. Damit lassen sich auch die Einschränkungen von Beobachtungsstudien verringern.
Zwischen 30 und 60 % des Blutdrucks beruhen auf genetischen Faktoren. Mehr als 1.000 Punktmutationen, die sich im Genpool einer Population etabliert haben (SNPs), stehen damit in Zusammenhang. SNPs helfen, die Reaktion auf Medikamente, aber auch die Anfälligkeit auf Umweltfaktoren sowie das Risiko von Krankheiten vorherzusagen. Das Forscherteam betrachtete bestimmte genetischen Varianten, von denen bekannt ist, dass sie für vier Merkmale des Blutdrucks verantwortlich sind – und zwar für den systolischen Blutdruck, für den diastolischen Blutdruck, für den Pulsdruck und für den Bluthochdruck (> 140/90 mmHg). Für die Studie nutzen sie bereits vorhandene vollständige DNA-Genomdaten von 736.650 Menschen, überwiegend europäischer Abstammung. Diese analysierten sie auch im Hinblick auf genetische Aspekte für psychologische Phänomene wie Angst, depressive Symptome, subjektives Wohlbefinden und das Persönlichkeitsmerkmal Neurotizismus.
Laut der Analyse haben Bluthochdruck und diastolischer Blutdruck signifikante kausale Auswirkungen auf den Neurotizismus, ausgenommen bei Angst, depressiven Symptomen oder subjektivem Wohlbefinden. Nach der Adjustierung dieser Ergebnisse stand nur der diastolische Blutdruck mit über 90 Prozent in einem deutlichen Zusammenhang mit Neurotizismus. Diese Ergebnisse basieren auf 1.074 SNPs. Neurotizismus ist neben Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion und Verträglichkeit einer der fundamentalen Persönlichkeitsfaktoren nach dem Modell der Big Five. Menschen mit einer hohen Ausprägung im Neurotizismus wirken oft aufgeregt, unsicher, leicht reizbar und nervös, unzufrieden und mit einer Tendenz zur Schwermut. Niedriger Neurotizismus zeigt sich in emotionaler Stabilität und geringer Ängstlichkeit; solche Menschen erscheinen ruhig, gelassen und ausgeglichen.
In ebendiesen Merkmalen sieht Studienleiter Lei Cai eine mögliche Erklärung für die Ergebnisse seiner Studie: „Personen mit Neurotizismus können empfindlich auf die Kritik anderer reagieren, sind oft selbstkritisch und entwickeln leicht Angst, Wut, Sorge, Feindseligkeit, Selbstbewusstsein und Depression. Daraus können langfristig Angststörungen entstehen. Außerdem könne der so erlebte psychische Stress wiederum zu erhöhtem arteriellen Blutdruck und Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen.“ Um aus diesem Teufelskreis herauszukommen, empfehlen die Forscher, den Blutdruck engmaschig zu kontrollieren und durch Bewegung und Ernährung in eine positive Richtung zu beeinflussen. Gelingt das nicht, erhöht sich das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen noch mehr.
Die Studienautoren räumen Limitationen ihrer Arbeit ein. Sie berichten, dass es zum Beispiel nicht möglich war, eine Pleiotropie vollständig auszuschließen. In dem Fall beeinflusst ein Gen mehrere Eigenschaften. Zum anderen sehen sie eine Verallgemeinerung der Ergebnisse als kritisch an, da die eingeschlossenen Probanden überwiegend europäischer Abstammung waren. Doch auch eine Metaanalyse aus dem Jahr 2022 konnte zeigen, dass psychische Erkrankungen einen Einfluss auf den Blutdruck haben. Angst- und Panikstörungen sowie Depression bei Erwachsenen, unabhängig vom Alter, führten zu größeren Blutdruckschwankungen während des Tages als bei Menschen ohne diese Erkrankungen. Zudem sank in den ausgewerteten Daten der systolische Blutdruck nachts nicht wie bei Gesunden um 10 bis 20 % ab.
Die Daten der vorgestellten Studien zeigen, dass die Beziehung zwischen psychischer Gesundheit, Emotionen und Blutdruck weiter erforscht werden muss. Neurotizismus ist in all seinen Dimensionen – emotionale Verfassung, Labilität, Gehemmtheit – ein komplexes Merkmal. Die Arbeitsgruppe um Lei Cai legt für den klinischen Alltag nahe, dass durch die Kontrolle des Blutdrucks auch neurotische Verhaltensweisen und Angstzustände eingedämmt werden könnten.
Cai L, Liu Y, He L. Investigating genetic causal relationships between blood pressure and anxiety, depressive symptoms, neuroticism and subjective well-being. Gen Psychiatr. 2022 Nov 4;35(5):e100877. doi: 10.1136/gpsych-2022-100877. PMID: 36447755; PMCID: PMC9639125.
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