Gleich zwei neue Wirkstoffe hat die Europäische Arzneimittelagentur bei Myasthenia gravis zugelassen. Wie funktionieren sie – und welcher Nutzen ist zu erwarten?
Myasthenia gravis gehört zu den seltenen Leiden. Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) schätzt, dass EU-weit etwa zwei von 10.000 Menschen daran erkrankt sind, Stand November 2023. Dies entspricht insgesamt 104.000 Menschen. Bei dieser Autoimmunerkrankung attackiert das Immunsystem fälschlicherweise körpereigene Strukturen, vor allem Rezeptoren für den Neurotransmitter Acetylcholin an neuromuskulären Synapsen. Die Kommunikation zwischen Nerv und Muskel wird beeinträchtigt.
Ein Blick auf die Krankheitsmechanismen: Bei Myasthenia gravis spielen Autoantikörper die zentrale Rolle. Binden sie an Acetylcholin-Rezeptoren, wird das Komplementsystem aktiviert. Als Teil des unspezifischen humoralen Immunsystems eliminiert es normalerweise Antigene, die im Körper nichts zu suchen haben, etwa nach einer bakteriellen Infektion. Bei Myasthenia gravis führt der Mechanismus jedoch zur Schädigung der biologischen Schnittstelle zwischen Nerv und Muskel.
Die gestörte Signalübertragung hat etliche Folgen. Patienten leiden an Muskelschwäche und an hängenden Augenlidern (Ptosis). Aufgrund der Schwäche der Augenmuskulatur sehen sie mitunter Doppelbilder (Diplopie). Typisch sind auch Schwierigkeiten beim Sprechen und beim Schlucken.
Als kausale Behandlung setzen Ärzte auf Thymektomien – mit Erfolgsraten von 70 bis 80 Prozent. Oft ist bei Patienten die Thymusdrüse vergrößert. Sie spielt eine wichtige Rolle bei der Entstehung fehlgesteuerter Antikörper.
Immunsuppressiva kommen bei Myasthenia gravis ebenfalls zum Einsatz. Und Medikamente wie Pyridostigmin verbessern die Signalübertragung an den neuromuskulären Verbindungen, indem sie den Abbau von Acetylcholin hemmen. Darüber hinaus lohnt sich ein Versuch mit der Plasmapherese, um Autoantikörper aus dem Blut zu eliminieren. Experimentell werden auch verschiedene Antikörper gegen Proteine des Komplementsystems eingesetzt. Mit zwei Neuzulassungen haben Ärzte nun weitere Möglichkeiten, um Patienten zu behandeln.
Ende 2023 hat die EMA Zilucoplan (Zilbrysq®) als Ergänzung zur Standardtherapie bei generalisierter Myasthenia zugelassen – und zwar für erwachsene Patienten mit Anti-Acetylcholin-Rezeptor-Antikörpern. Bei Zilucoplan handelt es sich um ein zyklisches Peptid. Es bindet an die Komplementkomponente C5 und hemmt deren Spaltung in C5a und C5b: eine Möglichkeit, die Aktivierung des Komplementsystems zu bremsen.
Eine Phase-III-Studie, an der 174 Erwachsene mit generalisierter Myasthenia gravis und Anti-Acetylcholin-Rezeptor-Autoantikörpern teilgenommen haben, zeigt, dass Zilucoplan wirksamer als Placebo ist, um die Symptome zu lindern. Forscher haben den Effekt anhand der „Myasthenia Gravis Activities of Daily Living“-Skala (MG-ADL) gemessen, einem Punktesystem zur Bewertung der Auswirkungen der Krankheit auf das tägliche Leben. Der MG-ADL-Score reicht von null Punkten für symptomfreie Menschen bis 24 Punkte für stärkste Beschwerden. Nach 12-wöchigen Therapie sank der Wert unter Zilucoplan um 4,39 Punkte, verglichen mit 2,30 Punkten weniger unter Placebo.
Zu den häufigsten Nebenwirkungen gehören Reaktionen an der Injektionsstelle und Infektionen der oberen Atemwege. Aufgrund der Effekte auf das Immunsystem darf Zilucoplan bei Meningokokken-Infektionen nicht verabreicht werden. Patienten sollten mindestens zwei Wochen vor Beginn der Behandlung gegen Neisseria meningitidis geimpft werden.
Auch Rozanolixizumab (Rystiggo®) hat von der EMA grünes Licht bekommen, und zwar als Ergänzung zur Standardtherapie zur Behandlung der generalisierten Myasthenia gravis bei erwachsenen Patienten, die Antikörper gegen Acetylcholin-Rezeptoren oder gegen die muskelspezifische Rezeptor-Tyrosinkinase im Blut haben. Rozanolixizumab ist ein monoklonaler Antikörper, der sich gegen den neonatalen Fc-Rezeptor (FcRn) richtet und daran bindet. Eine medikamentöse FcRn-Blockade verhindert die Bindung von Immunglobulin G an FcRn, so dass der Körper IgG-Autoantikörper schneller abbauen kann – und diese keine biologischen Strukturen angreifen.
Grundlage der Zulassung ist eine randomisierten klinischen Phase-III-Studie mit 200 Patienten. Sie zeigt, dass sich unter Verum der MG-ADL-Score im Vergleich zu Placebo deutlich stärker verringert. Die Änderungen bis Tag 43 lagen in der Rozanolixizumab-Gruppe mit 7 mg/kg bei -3,37, in der Rozanolixizumab-Gruppe mit 10 mg/kg bei -3,40 und in der Placebo-Gruppe bei -0,78. Als häufigste Nebenwirkungen nennt die Studie Kopfschmerzen, Durchfall und Fieber.
Um den tatsächlichen Nutzen der neuen Therapien zu beurteilen, sind Real-World-Daten erforderlich. Denn klinische Studien haben immer eine begrenze Laufzeit und schließen vorselektierte Populationen ein, die beispielsweise keine Komorbiditäten haben. Auch liefern mehr Patienten ein deutliches Bild hinsichtlich der (Neben-)Wirkungen, vor allem bei selten auftretenden Ereignissen.
Bildquelle: Mong Bui, unsplash