Vor meinem Start in einer Hausarztpraxis erwartete ich die üblichen Klassiker wie Bluthochdruck, Diabetes und Infekte. Auf einen Überraschungs-Striptease und Männer mit Brustkrebs-Paranoia war ich nicht vorbereitet. Zwei skurrile Patientengeschichten.
Als ich knappe zwei Jahre nach dem letzten Staatsexamen meine Weiterbildung in einer allgemeinmedizinischen Praxis begann, rechnete ich mit den üblichen klassischen Krankheitsbildern wie Diabetes, Schnupfen oder Bluthochdruck und bereitete mich auf diese Diagnosen vor. Die ersten Wochen liefen recht gut – ich konnte mein zuvor aufgefrischtes Lehrbuchwissen gut anwenden und behandelte erfolgreich grippale Infekte, offene Füße und den ein oder anderen allergischen Ausschlag.
Dass die Allgemeinmedizin aber noch viel mehr in petto hat als die üblichen Volkskrankheiten, lernte ich bereits nach wenigen Wochen, als sich gestandene Männer öffneten und ganz besondere Beschwerden und Körperteile offenbarten.
Den ersten besonderen und etwas skurrilen Fall erwischte ich an einem Donnerstagnachmittag. Das Wartezimmer war aufgrund einer grassierenden herbstlichen Erkältungswelle relativ voll und die leitende Sprechstundenhilfe wies mir einen gewissen Herrn B. zu, der zu den Stammgästen zählte und sonst bei meiner Chefin in Behandlung war. Angeblich habe er wohl etwas am Fuß. Ich dachte mir nichts dabei und holte den Patienten in mein Sprechzimmer.
Schon der erste Eindruck zeigte einige Besonderheiten: Der Patient hatte sich wohl eine längere Zeit nicht mehr gewaschen, trug leicht verschmutzte Kleidung und hatte fettige Haare. Er berichtete von einem entzündeten Zehnagel, bei dem die vor einiger Zeit verordnete antiseptische Salbe anscheinend nicht wirken würde. Ich bat Herrn B., seine Socken auszuziehen und musste prophylaktisch erstmal die Luft anhalten. Der große Zeh sah tatsächlich ziemlich übel aus und ich vermutete eine Pilzinfektion.
Als ich dann zurück zu meinem Schreibtisch gehen wollte, um ein entsprechendes Rezept zu schreiben, stand der Patient plötzlich auf und ließ einfach unvermittelt seine Hose runter. Und damit meinte ich nicht die Jeanshose, sondern das komplette Paket samt Boxershorts. Da ich mit so einer Offenbarung nicht gerechnet hatte, verschlug es mir erstmal die Sprache. Der Patient dagegen musste grinsen und fragte mich allen Ernstes, ob ich seinen Penis noch nach weiteren Ausschlägen absuchen könne. Natürlich bemühte ich mich um Professionalität, schaute mir das gute Stück ganz kurz einmal an und versicherte ihm beste genitale blickdiagnostische Gesundheit.
Glücklicherweise zog er seine Hose dann auch wieder hoch und ich konnte ihn bei einer gewissen Redseligkeit mit Mühe und Not aus meinem Sprechzimmer befördern. Als ich ihn dann zur Praxistür begleitete, kam die nächste Überraschung. Denn das Praxisteam schien von dieser Verhaltensauffälligkeit gewusst zu haben und hatte sich anscheinend mit mir einen Scherz erlaubt. Obgleich mir die Situation natürlich ziemlich unangenehm war, konnte ich am Ende darüber lachen und erhielt ab sofort im wöchentlichen Rhythmus von besagtem Patienten einen kostenfreien Striptease am Arbeitsplatz.
Der zweite besondere Fall, den ich während meines halben Jahres in einer allgemeinmedizinischen Praxis erlebte, zeigte verschiedene Wendungen. Zunächst erlebte ich einen stark adipösen Mann um die 30, der sich mit einem selbstgestellten Verdacht auf Brustkrebs zur Abklärung vorstellte. Sein Opa wäre kurze Zeit vorher an einem Prostatakarzinom verstorben, so dass er jetzt bei sich Brustkrebs vermutete. Durch das Übergewicht waren seine Brüste tatsächlich relativ ausgeprägt, wenn aber auch weich und ohne tastbare Verhärtungen. Wir machten sogar einen Ultraschall, aber der Patient versteifte sich immer mehr auf seine Verdachtsdiagnose.
Als er dann eine Woche später kam, war die linke Brust tatsächlich rot, geschwollen und wies bei der Tastuntersuchung einige Verhärtungen auf. Dabei wurde aber schnell klar: der Patient hatte seine Brust mit aller Kraft so lange und so häufig selbst abgetastet, dass es zu einer Gewebereaktion auf die mechanische Belastung kam. Ich versuchte ihn darüber aufzuklären, erntete aber auf einmal Beschimpfungen und Zweifel an meiner Fachkompetenz.
Nach kurzer Rücksprache mit meiner Chefin stellte ich dann eine Überweisung zum Gynäkologen mit Bitte um Ausschluss eines Mammakarzinoms aus und wollte den Patienten folglich an einen Spezialisten überweisen. Dieser empfand eine Überweisung zum Frauenarzt allerdings als Beleidigung und schickte sogar seine Freundin, die mich vor vollem Wartezimmer bedrohte und erneut meine medizinischen Kenntnisse in Frage stellte. Da meine Chefin sich aber rechtzeitig dazwischen stellte, konnte ich mich einem angedrohten Fausthieb gerade noch entziehen und hoffte ab sofort, dass sich der Patient erstmal nicht wieder melden würde.
Hatte ich in den nächsten Tagen noch Angst, erneut mit diesem Fall konfrontiert zu werden, stellte sich in den folgenden Wochen wieder Entspannung ein. Bis sich der besagte Patient an einem Mittwoch kurz vor Praxisschluss erneut meldete und ausdrücklich von mir behandelt werden wollte. Zu meiner großen Überraschung entschuldigte er sich für das Verhalten seiner Freundin und fing auf einmal an, zu weinen. Die Krebserkrankung und der Tod seines Opas wären für ihn sehr schlimm gewesen. Auch seine Leistung als Opernsänger hätte sehr darunter gelitten. Zudem würde er sein starkes Übergewicht nicht in den Griff bekommen und viele Kinder hätten schon in Bus und Bahn mit dem Finger auf ihn als abschreckendes Beispiel gezeigt.
Offensichtlich litt dieser Mann psychisch enorm unter seiner Figur und unter dem Verlust seines Opas. Ich verlor zunächst nur wenige Worte und hörte einfach nur zu. Nach einer guten Stunde – die Praxis war bereits geschlossen – einigten wir uns auf weitere Gesprächstermine im Rahmen der psychosomatischen Grundbetreuung und erarbeiteten verschiedene Strategien zur nachhaltigen Gewichtsreduktion.
Und tatsächlich, zu meiner erneuten Überraschung, schienen diese Tipps zu fruchten. Mein Patient konnte in wenigen Wochen die ersten Kilos verlieren und gewann somit wieder die Kontrolle über sein Leben zurück. Auch die Angst vor Brustkrebs ließ sich nicht mehr nachweisen und auch von der anfänglichen Depression zeigte sich in weiteren Gesprächen keine Spur. Ganz im Gegenteil: Der Patient hatte supergute Laune und brachte sogar als Dankeschön eine große Schachtel Merci und einen Blumenstrauß vorbei.
Zwar hat es mich nach dieser aufregenden Zeit dann doch noch in eine andere Fachrichtung verschlagen. Ich werde aber niemals diese besonderen Fälle vergessen, die mir damals vor Augen hielten, offen zu sein, zuzuhören und auch mit Diagnosen und Beschwerden jenseits der Klassiker zu rechnen.
Der Autor dieses Textes ist der Redaktion bekannt, möchte aber anonym bleiben.
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