Good Vibrations im Bauch: Eine vibrierende Pille soll dem Körper vorgaukeln, satt zu sein. Naht das Ende von Diäten und Abnehmspritzen?
Übergewicht und Adipositas sind Probleme, die auf dem gesamten Globus zunehmen, wie etwa die Zahlen des World Obesity Atlas 2023 belegen. Das bringt entsprechende Folgen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Typ-2-Diabetes und mehr mit sich. Neben Lebensstil-Interventionen setzen Patienten immer öfter auf pharmazeutische Hilfe, GLP-1-Rezeptor-Agonisten stehen hoch im Kurs. Kein Wunder, dass Science die Wirkstoffklasse zum „bahnbrechenden Arzneimittel des Jahres 2023“ gekürt hat (DocCheck berichtete). Nur: Bei viel Licht gibt’s auch viel Schatten. GLP-1-RA bringen etliche Nebenwirkungen mit sich. Und die bariatrische Chirurgie ist als invasiver Ansatz mit lebenslanger Nachsorge nicht nur von Vorteil. Deshalb wäre eine wirkstofffreie Intervention für viele Menschen der Traum.
Also haben sich Forscher am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und an der Harvard-Universität Gedanken gemacht, wie eine rein technische, nicht pharmazeutische Lösung aussehen könnte. Ihre Ergebnisse haben sie jetzt im Fachmagazin Science Advances veröffentlicht.
MIT-Ingenieure haben eine Kapsel entwickelt, die im Magen vibriert und ein Sättigungsgefühl erzeugt. Credit: MIT.
Das Device gleicht äußerlich einer Pille. Es besteht aus einem Miniatur-Vibrationsmotor mit Batterie, der mit einer Gelatinemembran überzogen ist. Sobald die Gelatine durch die Magensäure hydrolysiert worden ist, schaltet sich der Motor ein und produziert Schwingungen von 30 Hertz. Die Pille mit dem Namen VIBES (Vibrating Ingestible BioElectronic Stimulator) ist dabei so konzipiert, dass sie an der Magenschleimhaut haftet. Sie aktiviert sich nach rund vier Minuten und bleibt etwa 30 Minuten lang aktiv. Anschließend passiert sie den Magen-Darm-Trakt und wird ausgeschieden.
Die Idee dahinter: VIBES stimuliert Mechanorezeptoren im Magen, die ihre Signale an den Vagus-Nerv weitergeben. Diese registrieren eine Dehnung der Magenschleimhaut, also den Füllzustand des Magens. Neben Faktoren wie dem Blutzucker und anderen Messwerten zu Nährstoffen in Blut und Gewebe führen diese Signale des Magens zu einem Feedback ans Gehirn und bestimmen das Hungergefühl. Bekannt war, dass sich ein gut gefüllter Magen simulieren lässt, nämlich mit aufblasbaren Ballons im Magen: ein riskantes Verfahren. Auch die Stimulation des Vagus-Nervs ist bereits untersucht worden.
Da in Experimenten auch das Streicheln der Magenschleimhaut mit einem Faden an einem Endoskop Mechanorezeptoren triggerte und sich in Experimenten an dehnungsempfindlichen Spindelfasern der Skelettmuskulatur gezeigt hat, dass sich durch Vibrationen eine Dehnung simulieren lässt, reifte die Idee zur Vibrations-Pille.
„Ich habe mich gefragt, ob wir Dehnungsrezeptoren im Magen aktivieren könnten, indem wir sie in Schwingung versetzen und sie wahrnehmen lassen, dass der gesamte Magen gedehnt wurde, um ein illusorisches Gefühl zu erzeugen, das Hormone und das Essverhalten beeinflusst“, sagt Shriya Srinivasan, Erstautorin der Studie und Assistant Professorin für Bioengineering an der Harvard Universität. Genau das habe die Studie nun belegt.
Im Tierversuch an jungen Schweinen haben Forscher herausgefunden, dass die Vibrationsstimulation der Magenwand die gleichen neuronalen Signale auslöst wie eine Dehnung der Magenwand durch viel Futter. Yorkshire-Schweine, die zum Einsatz gekommen sind, haben eine ähnliche Magenanatomie wie Menschen. Tatsächlich fraßen Tiere nach Einnahme der Vibrationspile deutlich weniger als Kontrollen mit einer nicht mechanischen Placebo-Pille.
Bei Untersuchungen des Metaboloms konnten die Forscher zeigen, dass beim Einsatz von VIBES das Hungerhormon Ghrelin weniger gebildet wurde als bei Kontrollen – analog dem Effekt nach einer sättigenden Mahlzeit.
Bis VIBES eine Zulassung zur Adipositas-Therapie erhält, wird noch viel Zeit vergehen. Die Versuche an Schweinen waren nur eine – wenn auch erfolgreiche – Proof-of-Concept-Studie. Das Prinzip funktioniere offensichtlich, sagt Giovanni Traverso, Associate Professor im Department of Mechanical Engineering am MIT und Senior-Autor. Der Effekt sei „tiefgreifend, und zwar durch das körpereigene System und nicht durch ein körperfremdes Therapeutikum“.
Im Schweine-Modell ließen sich nur die Wirkung im Magen und das veränderte Fressverhalten untersuchen. Hinweise auf unerwünschte Wirkungen wie Übelkeit oder Erbrechen fand das Team dabei nicht. Einen Effekt auf eine Gewichtsreduktion ließ sich aufgrund des Studiendesigns jedoch nicht zeigen, da die Tiere sich noch im Wachstum befanden und die Experimente kurzfristigerer Natur waren. Jetzt stehen weitere Tierexperimente an. Außerdem arbeiten die Wissenschaftler an einem Upscaling der Pillenproduktion und an Vorbereitungen für klinische Studien.
Sollte ihre Vibrationspille in den kommenden Jahren alle Tests gut absolvieren, rechnen die Forscher damit, dass Menschen mit Adipositas VIBES einfach vor dem Essen schlucken. Damit ließe sich eine Gewichtsreduktion unterstützen und die Umstellung der Lebensgewohnheiten erleichtern, schreiben die Autoren. Die Kosten pro Pille sollen im Bereich von mehreren Cent bis wenigen Dollar liegen.
Bildquelle: erstellt mit Midjourney