Das Schnee-Chaos erinnert mich an einen Fall aus Klinikzeiten: Herr Schneider ist im Schnee gestürzt. Nach einem Röntgen-Thorax gibt die Chirurgin Entwarnung, doch sein Griff ans Ohr lässt mir keine Ruhe.
Was für eine Woche! Endlich mal wieder Schnee und Winterkälte, es ist herrlich! Der Schlitten wartet schon, dass wir ihn den Berghang hinabflitzen lassen können. Doch dieses Verkehrschaos war natürlich unschön – kilometerlange Staus auf den Autobahnen, Fahren zur Praxis im Schneckentempo und Kinder, die aufgrund von Schulschließungen zur Sicherheit zuhause blieben. „Damals! Ja, damals …“, so tönt es einem in den sozialen Medien entgegen, „damals hat es das noch nicht gegeben!“
„Dass die Schulen geschlossen blieben, bloß wegen des bisschen Schnees!“ (In Wirklichkeit wurde in dem Satz kein Genitiv verwendet, sondern der umgangssprachliche Dativ „wegen dem Schnee“, aber das bringe ich nicht zu Papier.)
Damals! Ja, damals musste man noch 25 Kilometer durch die geschlossene Schneedecke zur Schule laufen. Durch die Alpen. Barfuß. Auch wenn man in Hamburg lebte. Denn damals, ja damals, da war noch alles besser, die Kinder abgehärtet, der Schnee weißer, die Gummistiefel aus Holz und echte Männer zitterten bei dem Wetter höchstens vor Wut, weil es nicht noch kälter war.
Übrigens: In der kältesten Stadt der Welt, in Oimjakon in Sibirien, liegt die Durchschnittstemperatur im Winter bei minus 45 Grad Celsius – erst ab minus 55 Grad Celsius gibt es Kältefrei in der Schule. Im Gegensatz dazu ist es bei uns mit seinen läppischen minus fünf Grad kuschelig warm.
Aber unterkühlen kann man sich dennoch rasch, vor allem, wenn man ohne wärmende Kleidung im Schnee liegt, wie es einem Mann ging, der via Rettungswagen damals (ja, damals …) in die Notaufnahme gebracht wurde. Es war ein Tag mit Eis und Schnee und ich erinnere mich, dass ich als Assistenzärztin in der Inneren Medizin alle Betten belegt hatte, es war wirklich voll. Da trudelte aber schon der nächste RTW ein und der Notfallsanitäter kam auf mich zu. „Ich bring Euch den Herrn Schneider. Glaube aber, er ist chirurgisch“, sagte er schulterzuckend und wir holten die diensthabende Chirurgin hinzu, damit die Übergabe durch den Rettungsdienst nicht zweimal geschehen musste. Die Chirurgin gesellte sich zu der illustren Runde und der Sanitäter berichtete.
„Herr Schneider lag längere Zeit auf dem Balkon im Schnee“, erklärt er. „Die Tochter hat ihn gefunden, als sie ihn zum Kaffeetrinken besuchen wollte. Er muss gestürzt sein. Temperatur 33,6 Grad Celsius, den müsst ihr mal aufwärmen. Wir haben ihm aber schon eine erwärmte Infusion gegeben.“
Der Patient lag auf der Trage, war wach, ansprechbar und sein Körper in eine Decke eingewickelt. „Herr Schneider“, sagte der Sanitäter zum Patienten. „Sie bleiben jetzt mal hier im Krankenhaus.“ Herr Schneider schaute ihn nicht an, sondern zupfte an seiner Decke herum. „Mei Kopf dud weh“, murmelte er. Die Chirurgin war ein bisschen genervt. „Zustand nach Sturz“ bedeutet, dass sie als Chirurgin erst einmal die Verletzungen abklären musste. Die Kollegin damals (ja, damals …) war aber sehr dafür bekannt, dass sie gerne Patienten in andere Abteilungen turfte, also „abschob“.
Sie wandte sich an mich: „Ok, ich mache die Röntgenbilder, danach könnt ihr ihn haben zum Aufwärmen.“ Es dauerte nicht allzu lange, da kam sie auf mich zu und berichtete: „Also da ist nichts, ihr könnt ihn jetzt aufwärmen. Röntgen-Thorax war unauffällig, Becken auch, an den Extremitäten sind keine Verletzungen, er ist also nicht chirurgisch.“
„Kein CT vom Schädel?“, fragte ich und wunderte mich etwas, weil der Herr ja schließlich gestürzt war, etwas von Kopfschmerzen murmelte und außerdem desorientiert erschien, was aber auch auf die Kälte zurückzuführen sein konnte.
„Nein, er hat keine Prellmarken und keine Verletzungen am Kopf.“
„Hm“, reagierte ich wortgewandt und machte mich auf den Weg in das Zimmer, in dem Herr Schneider untergekommen war, um ihn zu sprechen und zu untersuchen.
„Guten Tag, Koock ist mein Name“, stellte ich mich vor. „Und wie ist Ihr Name?“
Herr Schneider antwortete mit seinem Namen, was schon mal ein gutes Zeichen war. Die Orientierung prüft man immer nach Ort, Zeit und Person. Außerdem fragt man, ob sich Patienten an das Geschehene erinnern. Manchmal kann man auch den Bundeskanzler erfragen. Wenn „Herr Adenauer“ geantwortet wird, befindet sich die Person gedanklich deutlich im Damals (Ja, damals …).
„Können Sie mir sagen, was passiert ist?“, fragte ich meinen Patienten.
„Isch waas es ned“, sagte er in schönstem Hessisch, blickte starr geradeaus und fasste sich immer wieder ans Ohr. Ich stutze.
„Herr Schneider, wo sind Sie denn gerade?“
„Isch waas es ned. Mei Ohr dud mir weh.“
„Herr Schneider?“ Ich musste ihn immer wieder ansprechen, weil er nur geradeaus starrte. „Welches Jahr haben wir denn?“
Keine Antwort. Herr Schneider nestelte stattdessen an seinem schmerzenden Ohr herum. Ich schaute meine Pflegekraft an, sie schaute mich an. „Ich hätte gerne ein CT vom Schädel“, sagte ich ihr, da löste sie schon die Bremsen der Trage, weil sie als erfahrene Kraft auch den Ernst der Lage gesehen hatte. „Melde Du an, ich bringe ihn rüber“, antwortete sie und rollte los, während ich die Radiologin kontaktierte.
Es dauert keine zehn Minuten, da rief mich die Radiologin auch schon an und berichtete, Herr Schneider habe eine Schädelbasisfraktur, einen Bruch am Hinterhaupt und eine Contrecoup-Blutung frontal. Er musste also im Schnee ausgerutscht und auf den Hinterkopf geknallt sein. Dabei wurde sein Gehirn durch den Schwung nach vorne geschleudert und an der Gegenseite des Aufpralls waren durch die Scherkräfte Blutgefäße gerissen.
„Scheiße“, murmelte ich eloquent und nahm das Telefon in die Hand. Eigentlich wäre das nun Aufgabe der Chirurgin gewesen, aber nun musste es schnell gehen. Also melde ich Herrn Schneider in der nächsten neurochirurgischen Klinik an und berichte telefonisch die Krankengeschichte sowie den radiologischen Befund, als die Chirurgin plötzlich höchst freundlich neben mir stand. „Du hast ein CT gemacht? Wieso?“, fragte sie und schien wirklich interessiert zu sein, wie ich auf diesen Trichter gekommen bin. „Der Patient war desorientiert, zur Zeit, zum Ort und zum Geschehen, und er fasste sich immer wieder ans Ohr“, berichtete ich ihr. Wie mein ehemaliger Oberarzt zu sagen pflegte: „Dann schreiten wir zum Äußersten und sprechen mit dem Patienten.“ Ein sehr effektives Verfahren.
Wir verlegten den Patienten schließlich gemeinsam und die Kollegin hat in der Folge nie wieder einen Patienten von mir abgelehnt, den ich als chirurgisch erachtete.
Ich mochte die Zeit in der Notaufnahme, auch wenn es stressig war. Aber damals (ja, damals …) waren die Bedingungen wohl noch einen Hauch besser als jetzt, auch wenn ich oft sehr an die Grenzen meiner Leistungsfähigkeit kam. Inzwischen verlagert sich das Geschehen immer mehr in den ambulanten Sektor und wir Hausärzte bekommen sehr kranke Patienten, die kein Bett in der Klinik ergattern konnten oder Sorge vor stundenlangen Wartezeiten in der Notaufnahme haben, weil dort das medizinische Personal fehlt.
Und gerade deswegen begibt man sich als Hausarzt bzw. -ärztin auch bei Schnee und Eis auf den Weg in die Praxis, weil man eben nicht zu den Berufstätigen gehört, die Homeoffice machen können. Genauso wie eigentlich alle Mitarbeiter im Gesundheitswesen. Zugegeben: Es ist eine organisatorische Hürde, wenn die Schulen geschlossen sind. Die meisten hatten jedoch eine Notbetreuung organisiert. Das hat es damals (ja, damals …) wahrscheinlich nicht gegeben. Notbetreuung. Neumodischer Kokolores. Hach, man kann es auch niemandem recht machen.
Ich trinke jetzt meinen zweiten Morgenkaffee mit Hafermilch. Auch das hat es damals nicht gegeben. Damals, ja damals, da trank man seinen Kaffee noch schwarz – ohne Wasser.
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