Die Patientin vor mir redet und redet, sie erzählt von ihrem Blutdruck und ihrem kürzlich verstorbenen Hund. Ich schiele auf die Uhr – der nächste Termin steht an. Kennt ihr das? Wie Ärzte das Problem elegant lösen könnten.
Meine Patientin sitzt vor mir und redet und redet und redet. Wir hatten mit ihrem Blutdruck angefangen und kamen dann über ihre Tochter, die so weit entfernt wohnt, auf ihren kleinen Hund zu sprechen, der im letzten Jahr verstorben ist. Gerade kramt sie in ihrer Tasche, um mir die Bilder aus ihrem Gelbeutel zu zeigen. Sie ist nicht mehr zu bremsen und ich spüre, wie dringend sie jemanden braucht, der ihr zuhört.
Diese Situationen kennt wahrscheinlich jeder, der mit Patienten zu tun hat. Und viele kennen wahrscheinlich auch die verstohlenen Blicke auf die Uhr und den wachsenden inneren Druck, der aufkommt, wenn die für eine Behandlung vorgesehene Zeit abgelaufen, aber kein Ende in Sicht ist. Selbst wenn man den Termin überzieht, weiß man doch, dass man das Grundproblem nicht gelöst hat, denn viele Patienten sind einfach einsam. Ein Arztkontakt kann ein fehlendes oder unzureichendes Sozialleben nicht aufwiegen, egal, wie viel Mühe man sich gibt. Wäre es nicht schön, etwas zu haben, was man den Betroffenen an die Hand geben kann? Ein Art Rezept gegen Einsamkeit? Das Social Prescribing geht in diese Richtung.
Gerade seit der Corona-Pandemie wurden die schädlichen Einflüsse von Einsamkeit auf die Gesundheit genauer untersucht. 2022 veröffentlichte z. B. ein chinesisches Forscherteam ein systematisches Review zum Thema in Nature Human Behaviour. Die Forscher hatten 90 prospektive Kohortenstudien mit 2.205.199 Personen eingeschlossen. Sie zeigten, dass sowohl soziale Isolation als auch Einsamkeit mit einer signifikant erhöhten Gesamtmortalität sowie Krebsmortalität assoziiert waren. Soziale Isolation erhöhte die Wahrscheinlichkeit, an einer kardiovaskulären Erkrankung zu versterben.
Auch in Deutschland sind viele Menschen von Einsamkeit betroffen. So drehte sich im Jahr 2022 bei der Telefonseelsorge jeder vierte der 1,2 Mio. Anrufe um dieses Thema. Eine Möglichkeit, die Schere zwischen hohem Zeitdruck in der Hausarztpraxis und wachsenden sozialen Bedürfnissen der Patienten zu schließen, könnte das Konzept des Social Prescribings sein. Es handelt sich bei diesem sozialen Verschreiben um einen innovativen Ansatz, mit dem den nichtmedizinischen Bedürfnissen in der Primärversorgung begegnet werden soll – sprich, Phänomene wie Einsamkeit eingedämmt werden sollen. Betroffene sollen ganzheitlich betrachtet und darin unterstützt werden, ihre psychosozialen Bedürfnisse zu erfüllen und so ihr Wohlbefinden und ihre Gesundheit zu steigern.
Zunächst werden Ärzte sowie das Praxispersonal dafür sensibilisiert, einen nichtmedizinischen persönlichen Bedarf zu erkennen und hinsichtlich der Möglichkeiten geschult, die sich für die Betroffenen durch Social Prescribing ergeben können. Anschließend werden die Patienten an sogenannte Link-Worker überwiesen. Diese speziell ausgebildeten Fachkräfte arbeiten mit den Betroffenen heraus, welche Lebenssituationen sie besonders belasten und welche sozialen Interaktionen für sie von Bedeutung wären und vermitteln passende regionale Angebote. Das kann vieles sein: z. B. Seniorentreffs, Theater, Schuldnerberatungen, Sport- und Bewegungsprogramme, Ernährungsberatung bis hin zu Gemeinschaftsaktivitäten wie Wandergruppen oder Nachbarschaftsnetzwerke.
Ein wichtiger Teil des Ansatzes besteht im Aufbau und der Pflege von Kooperationen mit Beratungseinrichtungen, Vereinen und anderen gesundheitsfördernden Initiativen. Aktuell wird Social Prescribing bereits in England praktiziert. Doch auch in anderen Ländern erfährt das Konzept wachsende Aufmerksamkeit, zum Beispiel in Österreich. Als Ziele der österreichischen Initiative zum Social Prescribing werden eine umfassendere Betreuung von Betroffenen, einer Stärkung des sozialen Zusammenhaltes, eine Förderung von Gesundheit- und Chancengleichheit sowie weniger Krankenhausaufenthalte und Arztbesuche angegeben.
Das österreichische Pilotprojekt lieferte vielversprechende Ergebnisse: Rund 86 % der 178 teilnehmenden Patienten konnten an regionale Angebote vermittelt werden. 98 % gaben an, sie würden Social Prescribing weiterempfehlen. Besonders profitierten laut der Taskforce Sozioökonomische Determinanten der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG, das nationale Forschungs- und Planungsinstitut für Gesundheitswesen in Österreich) ältere Menschen, chronisch psychisch Erkrankte, sozial benachteiligte Menschen, Menschen mit geringer Gesundheits- oder Grundkompetenz sowie die Primärversorger, die durch Social Prescribing eine Entlastung im Umgang mit bedürftigen Patienten erlebten. Und auch in Deutschland wächst das Interesse: Das Institut für Allgemeinmedizin an der Berliner Charité veranstaltete in Kooperation mit der Global Social Prescribing Alliance im April 2023 die 1. Deutsche Social-Prescribing-Konferenz.
Bei der Frage nach den Kosten für die Link-Worker sind Befürworter optimistisch, dass eine verbesserte psychische – und damit letztlich auch körperliche – Gesundheit zu einer Einsparung von Kosten im Gesundheitssystem führen könnte, welche die Ausgaben für die Link-Worker kompensierten. Bei aller Euphorie ist die Datenlage bezüglich der Nachhaltigkeit der Maßnahmen jedoch heterogen. Das untersuchte ein Team von Forschern der Charité. Sie analysierten 68 Berichte aus 53 unterschiedlichen Projekten, darunter drei kontrollierte Studien. Sie kamen zu dem Schluss, dass nicht-kontrollierte Studien mit kürzeren Betrachtungszeiträumen häufig positive Effekte berichteten, die in kontrollierten Settings und über längere Beobachtungszeiträume nicht bestanden. Betrachtete Designs, Populationen und Endpunkte waren jedoch laut den Studienautoren heterogen und das Verzerrungspotential in den meisten Studien hoch. Die Forscher schlussfolgerten, dass die derzeitige Evidenz positive Effekte von Social Prescribing auf eine Reihe relevanter Endpunkte nahelege, dass die klinische Relevanz und die Langfristigkeit auf Basis der qualitativ teils defizitären Studien jedoch nicht abschließend beurteilt werden könne. Weitere methodisch hochwertige Studien seien erforderlich.
Dennoch ist das Interesse für das Konzept auch in Deutschland ungebrochen. Im Nachgang zur 1. Deutschen Social-Prescribing-Konferenz gründete sich das Kompetenznetzwerk Social Prescribing, mit dem Ziel, alle Akteure insbesondere aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zusammenzubringen und zu vernetzen. Laut der Internetseite sind bereits über 140 Mitglieder Teil des Kompetenznetzwerks und ein zweite Konferenz ist für Frühjahr 2024 geplant.
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