Bestimmte Zellen im Gehirn werden aktiviert, wenn wir den Kopf bewegen. Neurowissenschaftler entdeckten jetzt eine weitere Funktion – und zwar bei der Bildung von Erinnerungen.
Die Kopfrichtungszellen im Gehirn werden seit ihrer Entdeckung in den 1990er Jahren als innerer Kompass bezeichnet. Sie werden jeweils spezifisch aktiviert, wenn der Kopf eines Tieres oder Menschen in eine bestimmte Richtung zeigt. Dadurch entsteht im Gehirn ein inneres Abbild der Kopfrichtung. Nun hat ein neurowissenschaftliches Team der Universität Tübingen entdeckt, dass die Funktion der Kopfrichtungszellen der Maus weit darüber hinaus geht.
Möglicherweise bilden sie im Gehirn einen wichtigen Eingang für Sinnes- und Gefühlsinformationen, die in die Bildung von Erinnerungen an Erlebtes eingehen, in das sogenannte episodische Gedächtnis. Das Forschungsteam unter der Leitung von Professor Andrea Burgalossi vom Institut für Neurobiologie und dem Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN) veröffentlichte seine Studie im Fachjournal Nature Neuroscience.
In der äußeren Erlebniswelt des Menschen tragen die Sinne gemeinsam zur Bildung von Erinnerungen bei. Der visuelle Reiz einer malerischen Landschaft, der Widerhall eines Lachens, die Wärme einer Umarmung – all diese Sinneseindrücke werden in einer Gehirnregion zusammengeführt, dem Hippocampus. Dieser Verarbeitungsprozess ist entscheidend, um flüchtige Sinneswahrnehmungen in dauerhafte Erinnerungen zu verwandeln. „Der Hippocampus arbeitet wie eine Art neuraler Kurator, der die Informationen integriert“, sagt Burgalossi. „Während des Erlebens wird im Hippocampus eine sogenannte Erinnerungsspur für eine Episode unseres Lebens angelegt.“
Um genauer zu verstehen, über welche Wege Sinnesinformationen in den Hippocampus gelangen, setzte das Forschungsteam an einer seiner Haupteingangsstrukturen im Gehirn an, dem vorderen Thalamus. „Wir wissen seit Jahrzehnten, dass dieser Bereich entscheidend ist für das episodische Gedächtnis. Patienten, die Schädigungen in dieser Hirnregion aufweisen, leiden unter Erinnerungsverlusten“, sagt Dr. Patricia Preston-Ferrer, eine der Studienautorinnen. Als Wissenschaftler erstmals in den 1990er Jahren die Aktivitäten der Nervenzellen im vorderen Thalamus von Nagetieren aufzeichneten, entdeckten sie die dort angesiedelten Kopfrichtungszellen. „Bisher war man davon ausgegangen, dass diese ausschließlich das innere Abbild der Kopfbewegungsrichtung des Tieres in der Umgebung kodieren“, sagt Preston-Ferrer. „Doch nun zeigen unsere neuesten Experimente, dass diese Vorstellung nur ein unvollständiges Bild ergibt.“
Als das Tübinger Forschungsteam die elektrische Aktivität im Mäusegehirn aufzeichnete, stellte es fest, dass die Kopfrichtungszellen im Thalamus aktiv wurden, wenn sie die Maus Sinnesreizen aussetzten. „Sowohl beim Vorspielen eines Tons als auch beim Berühren eines Tasthaares an der Schnauze der Maus wurden gezielt und zuverlässig und mit bemerkenswert kurzer Verzögerung nur die Kopfrichtungszellen aktiviert“, sagt CIN-Forscher und Mitautor der Studie Giuseppe Balsamo. „Wir waren überrascht, da man jahrzehntelang annahm, dass die Hirnregion im vorderen Thalamus auf Sinnesreize kaum reagiert.“
Außerdem ergaben die Experimente, dass im vorderen Thalamus nur die Kopfrichtungszellen auf Sinnesreize antworteten, andere Nervenzellen jedoch nicht. „Daher wissen wir, dass die Kopfrichtungszellen eine besondere Funktion haben müssen“, sagt CIN-Forscher und Mitautor der Studie Dr. Eduardo Blanco-Hernandez. „Ihre Aufgabe muss über die Funktion als innerer Kompass hinausgehen.“ Auf eine zunehmende Erregung der Maus oder auf soziale Kontakte wie dem Zusammentreffen mit einem Artgenossen reagierten die Kopfrichtungszellen mit gesteigerter Aktivität. „Es ist bekannt, dass große Aufmerksamkeit und Gefühle einen großen Einfluss auf die Entstehung von Erinnerungen und deren Qualität haben. In solchen Situationen erinnern wir uns viel lebhafter als in einem unbeteiligten, passiven Zustand“, sagt Blanco-Hernandez.
Insgesamt weisen die neuen Ergebnisse darauf hin, dass die Kopfrichtungszellen im Thalamus einen entscheidenden Beitrag zur Aufnahme und Weiterleitung von Sinnesinformationen, Aufmerksamkeits- und Erregungszuständen in das System des episodischen Gedächtnisses bilden könnten. „Um zu verstehen, wie eine Erinnerungsspur gelegt wird, müssen wir die Wege und beteiligten Nervenzellen kennen, die Basisinformationen in den Hippocampus weitergeben“, sagt Burgalossi. „Wir gehen nun davon aus, dass der innere Kompass einen Hauptknoten in diesem Prozess darstellt.“ Ob dieser Knoten beeinflusst werden könnte, etwa auch zu therapeutischen Zwecken, um Erinnerungen besser bilden und abrufen zu können, müsse weiter untersucht werden.
Der Beitrag basiert auf einer Pressemitteilung der Eberhard Karls Universität Tübingen. Die Originalpublikation findet ihr hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: Caleb George, unsplash