Alleine mit Verstorbenen zu sein, machte mir nie Angst – eigentlich. Eines Tages hatte ich eine Dame obduziert, die 150 Kilo auf den Leichentisch brachte. Wie mich die Leiche fast begraben hätte – und warum ich die Pathologie trotz allem vergöttere.
Lange konnte und wollte ich mich nicht festlegen, in welchem medizinischen Bereich ich arbeiten wollte. Noch im Studium schwebte mir vor, Chirurgin zu werden und ich bin überzeugt davon, dass ich es geliebt hätte. Ich hätte auch eine Anstellung gehabt, aber mein Uterus schrie: „Ich will ein Kind von dir!“ und er war stärker als meine Karriereambitionen.
Während meines Praktischen Jahres hatte ich ein Tertial in der Pathologie verbracht und war begeistert. Kaltchirurgie! Die Pathologie habe ich als die Mutter aller medizinischen Disziplinen gesehen und bin auch heute noch davon überzeugt, dass alle Mediziner dort einige Wochen oder Monate verbringen sollten, da dieses Fach immens hilft, Krankheit zu verstehen. Ob es umsetzbar ist, steht auf einem anderen Blatt.
Viele Menschen haben eine falsche Vorstellung davon, was dieses Fach beinhaltet und denken an berühmte Rechtsmediziner aus dem „Tatort“ oder aus amerikanischen Hochglanzkrimis, in denen Pathologinnen in High-Heels den Ort eines Verbrechens betreten und auf den ersten Blick erkennen: „Es war Mord! Der Mann wurde um 11:23 Uhr getötet. Mit einem Giftpfeil zwischen der ersten und zweiten Zehe rechts. Aber ich muss noch Untersuchungen machen.“ Dann folgt theatralisches, bedauerliches Kopfschütteln mit Blick zuerst auf die Leiche, dann gedankenverloren ins Nirgendwo. Der oder die Tote wird eingepackt und die bestöckelschuhte Dame stöckelt hinterher.
Wahlweise ist der TV-Pathologe auch ein charakterloser Mistkerl, der sein Hühnchen zum Mittagessen mit dem Skalpell seziert, nachdem er dieses lässig am Hemdsärmel abgewischt hat.
Was definitiv richtig ist: Pathologen sind ein Völkchen für sich, mit einem eigenen Humor und einer eigenen Ekelgrenze. Das liegt unter anderem daran, dass sie sehr viel alleine arbeiten. Denn ein Pathologe sitzt die meiste Zeit seines beruflichen Lebens in seinem Zimmer am Mikroskop. Er arbeitet nicht an Tatorten, er hat keine Wasserleichen und Mordopfer zu untersuchen und er muss keine DNA-Proben aus Fingernagelrändern popeln. Nein, das sind alles Aufgaben eines Rechtsmediziners.
Ein Pathologe beschäftigt sich mit der Entstehung und dem Verlauf von Krankheiten, bis bin zum Tod. Ein sehr geringer Arbeitsanteil fällt dabei auf die Obduktionen und wenn obduziert werden muss, dann handelt es sich um Verstorbene in der Klinik, die unter krankheitsbedingten Umständen verstarben: Krebs, Sepsis, Herzinfarkt.
Die Hauptarbeit besteht darin, Krankheiten unter dem Mikroskop zu diagnostizieren und damit einen wichtigen Beitrag zur geplanten Therapie derselben zu liefern. Dabei kommt alles unter die Linse, was irgendwo aus einem Menschen entfernt wurde. Angefangen von Appendizes, über Gallenblasen, Leberflecken und diverse Tumoren bis hin zu gynäkologischen Zytologien.
Hat ein Mensch einen neu entdeckten Krebs, werden Proben entnommen und der Pathologe untersucht diese Probe, um die genaue Art des Tumors festzustellen. Dies ist wichtig für die Festlegung der späteren Therapie: Chemotherapie? OP? Bestrahlung? Denn nicht jeder Krebs spricht auf jede Therapie an. Manchen Krebsarten muss man mit Chemotherapie gar nicht erst ankommen, sie reagieren nicht drauf.
Nach einer Tumoroperation wird untersucht, ob der Krebs die Organgrenzen bereits überwunden hat, ob es Metastasen in den umgebenden Lymphknoten gibt und in welchem Tumorstadium sich der Krebs befindet. Auch molekularpathologisch wird viel Diagnostik betrieben, um genau zu bestimmen, ob der Tumor beispielsweise empfänglich für eine hormonblockierende Therapie wäre.
Aber auch weniger schlimme Erkrankungen werden vom Pathologen untersucht: Hatte die entzündete Appendix eventuell schon einen Wanddurchbruch? Ist die vergrößerte Rachenmandel chronisch entzündet gewesen? Wurde bei der Sterilisation einer Frau so viel Eileiter entfernt, dass sie sicher nicht mehr schwanger werden kann?
Hier fließen medicolegale Aspekte mit ein, denn wenn eine sterilisierte Frau nach OP dennoch schwanger werden sollte, kann sie den Operateur auf Schadensersatz verklagen.
Die Pathologie ist also Dreh- und Angelpunkt von Diagnostik von Krankheit. Deswegen wollte ich das machen. Für mich war es die Königsdisziplin.
Angefangen habe ich unmittelbar nach meinem Examen als frisch approbierte Ärztin. An Lebenden zu arbeiten, erschien mir undenkbar und ich wollte in die Tiefen der Pathologie einsteigen. Das ist nun auch rein logistisch kein Problem, denn die Pathologie befindet sich ja meistens in den unterirdischen Tiefen eines Krankenhauses.
Am ersten Tag wurde ich dann von der Oberärztin herumgeführt und wir betraten den Obduktionssaal, wo dem Präparator vor Schreck über den ungeplanten Besuch beinahe sein gekochtes Ei aus der Hand fiel. Der kräftige, ältere Mann mit den gutmütigen Augen legte sein Salamibrot in die Tupperbox und das Ei daneben, kam uns entgegen und drückte mir freundlich strahlend die Hand.
Im Hintergrund wartete schon eine Leiche darauf, dass man sich ihr widmen möge. Und so zeigte er mir, wo ich mich umziehen konnte und ich schlüpfte in die Arbeitskleidung, legte Plastikschürze und Gesichtsschutz plus Handschuhe in doppelter Ausführung an und er erklärte mir die Grundlagen der Obduktion.
Präparator ist keine geschützte Berufsbezeichnung. In Deutschland gibt es Schulen, an denen man in mehrjähriger Ausbildung den Beruf erlernen und anschließend in der Biologie, Medizin oder in den Geowissenschaften arbeiten kann. In der Medizin betrifft es die Bereiche Anatomie, beispielsweise für den Studentenunterricht, und die Gebiete Rechtsmedizin und Pathologie.
Ohne einen Präparator ist eine Obduktion eine langwierige und schwierige Angelegenheit, denn er macht sozusagen die Grobarbeiten, nämlich die Eröffnung des Leichnams und die Entnahme der Organpakete.
Man stellt es sich ja immer so sauber und bunt in einem menschlichen Körper vor, aber das Gegenteil ist der Fall. Die Organe liegen eng gepackt neben- und aufeinander, dazwischen Mengen von weiß-grauem Bindegewebe, gelbem Fett und Schmierflüssigkeit, nennen wir das alles der Einfachheit halber Schlonz. Die Organe kleben so dicht beieinander und sind durch Blutgefäße und besagten Schlonz verbunden, dass man sie nicht einfach einzeln herausnehmen kann, wie bei einem Kinderpuzzle über den Körper. Oh, eine Leber! Zack, entfernt. Leider nein.
Man entfernt die Organe als Pakete: Herz, Lunge, große Gefäße und das Halspaket inklusive Luft- und Speiseröhre plus Kehlkopf und Zunge werden gemeinsam entfernt. Vorher muss man mit einer Art Geflügelschere den Thorax öffnen. Das Oberbauchpaket beinhaltet die Leber, die Bauchspeicheldrüse, die Milz, das Duodenum und den Magen.
Der Darm wird als Ganzes entnommen, der Länge nach aufgeschnitten, im Wasser gereinigt und untersucht. Dann werden die Nieren mitsamt Harnleiter, Blase und bei der Frau die Gebärmutter und Eierstöcke entfernt. Beim Mann entnimmt man noch die Prostata und die Samenbläschen und zieht zum Schluss – und das ist jetzt die Stelle, an der die Männer ganz stark sein müssen – die Hoden durch den Leistenkanal. Weil der Leistenkanal sehr schmal und die Hoden natürlich gigantisch groß sind (das wird mir jeder Mann bestätigen), macht es beim Herausziehen ein charakteristisches PLOPP.
Zuweilen erinnert mich sogar das Kochen an Hoden im Leistenkanal. Dann nämlich, wenn beispielsweise Kokosmilch eingedickt in der Dose festklemmt und sich dann mit einem gurgelnden und blubbernden Geräusch befreit und mit einem PLOPP im Kochtopf landet.
Zu guter Letzt wird das Gehirn entnommen und dafür muss die Kopfschwarte gelöst und (Achtung, empfindsame Gemüter sollten den Teil überlesen) nach vorne über den Kopf geklappt werden. Anschließend wird der Kopf aufgesägt, das götterspeisenartige Gehirn entnommen und in Formalin eingelegt, denn das Gehirn ist so weich, dass es im frischen Zustand nicht untersucht werden kann. Formalin fixiert das Gewebe, damit dann Proben entnommen werden können.
Wenn nun also alle Organe entnommen sind, werden sie vermessen, gewogen, nach einem bestimmten Muster aufgeschnitten und Proben für die Mikroskopie entnommen. Während die Untersuchung eine ärztliche Tätigkeit ist, begibt der Präparator sich daran, den Leichnam wiederherzustellen. Die leere Bauch- und Brusthöhle wird gefüllt, die Schnitte vernäht und alles gereinigt. Auch die Haare werden gewaschen. Schließlich wird der Verstorbene aufgebahrt, so dass Angehörige ihn sehen und Abschied nehmen können, ohne dass es noch äußerliche Anzeichen der Obduktion gibt.
Das alles ohne Präparator zu erledigen, ist eine extrem langwierige Arbeit. Ein guter Pathologe muss natürlich wissen, wie man diesen Job ohne helfende Hand tut. Doch ich war neu. Sehr neu. Und nach der ersten angeleiteten Obduktion ging der Präparator leider in den Krankenstand und konnte nicht wiederkommen. Die Vertretung war auch eher sporadisch da und so mussten erfahrene Ärzte mit mir an die Autopsiefront, was ihnen wiederum zusätzliche Arbeit machte.
Denn auch, wenn nun vielleicht jeder denkt: „Was soll passieren, die Leute sind ja schon tot?“, dann muss man sich dennoch vor Augen halten, dass eine vergeigte Obduktion eine richtige Diagnose für immer verschwinden lassen kann. Oft hängt der Seelenfrieden der Angehörigen an der richtigen Diagnose, manchmal auch eine Berufsunfähigkeitsversicherung oder einfach nur das Wissen, das man in der Klinik weitergibt. Um andere Menschen korrekt behandeln zu können und ihnen eventuell das Leben zu retten, sind fein säuberlich durchgeführte Untersuchungen essenziell und die Autopsie dient als Qualitätssicherungsmaßnahme. Schließlich werden auch oft Erkrankungen gefunden, von denen man bis dato nichts gewusst hat. Darüber hinaus lernt man enorm viel über Anatomie, Krankheitsentstehung und -verlauf und auch über die Wirkung einer Therapie.
Wer einmal einen Menschen obduziert hat, bekommt eine unglaubliche Demut und Respekt vor dem Lebewesen Mensch (beim Tier wäre es genauso). Wie ein Lebewesen in so einer Komplexität aufgebaut ist, wie es funktioniert, wie plötzlich alles Leben aus dem Menschen weichen konnte und was vom Menschen übrigbleibt, wenn die Seele sich auf und davon gemacht hat. Eine verlassene Hülle. Man denkt mit einem Mal sehr viel darüber nach, was einen Menschen ausmacht.
Durch meine Zeit in der Pathologie weiß ich, wie Tumoren aussehen. Wenn ich radiologische Bilder sehe, habe ich das Bild aus der Pathologie vor Augen. Ich habe sie angefasst, die harten, unerbittlichen Metastasen einer durchsetzen Leber. Die Überwucherung des Körpers, als wäre eine ganze feindliche Armee über den Menschen plündernd und raubend hinweggezogen und ließ bloß eine ausgemergelte Hülle übrig.
Ich weiß auch, wie ein schlappes Herz aussieht, das vergrößert und ausgeleiert mit letzter Kraft seine Pumpfunktion aufrechterhielt. Oder wie eine kaputte Niere klein und schrumpelig in der Hand liegt und quasi nichts wiegt. Wie götterspeisenwabbelig ein Gehirn im nicht-fixierten Zustand ist und trotzdem alle unsere Gedanken und Gefühle enthält. Götterspeisenwabbelige Gedanken. Matschige Gefühle. Unser Gehirn als puddingartige Kommandozentrale, in der in Sekundenbruchteilen Informationen ausgetauscht und umgesetzt werden. Da haben wir sie wieder, die Demut. Wie kann Götterspeise denken? Natürlich hat die Medizin dazu die Antworten parat. Aber der Gedanke, dass alles, was uns ausmacht, götterspeisengesteuert ist, verwundert.
Ich habe die Schönheit eines Darms gesehen. Was, wie bitte? Igitt, wie eklig! Nein, im Gegenteil: Der saubere Darm und insbesondere die mikroskopische Architektur sind wunderschön. Rasenartige Zotten, die unseren Körper am Leben erhalten. Darm kaputt, Mensch kaputt.
Natürlich musste ich mich an die Prozedur gewöhnen und nach einiger Zeit konnte ich dann alleine in den Keller geschickt werden. Alleine mit den Verstorbenen zu sein, machte mir nie Angst. Ich genoss viel mehr die Ruhe und die Stille, das Arbeiten „so vor mich hin“ und das Handwerkliche. Wenn ich auch aufgrund meiner eher kleinen und schmalen Statur gelegentlich an meine Grenzen kam.
Eines Tages sollte ich eine Dame obduzieren, die gut und gerne ihre 150 kg auf den Leichentisch brachte. Und diese 150 kg in Totenstarre musste ich nun auf den Autopsietisch bewegen. Wer schon einmal eine Leiche in Totenstarre gesehen hat, der weiß, dass sie eher recht (sehr) unflexibel sind. Und so schob ich den Leichnam auf dem Wagen zum Autopsietisch und stellte ihn direkt daneben ab, um mich hinter die Verstorbene zu stellen und zu schieben. Sie bewegte sich keinen Millimeter. Also flutete ich den Autopsietisch mit Wasser und schob erneut an der Dame. Ihr Oberkörper rutschte hinüber, aber durch die Leichenstarre kamen mir die Beine schwungvoll in einer Kreisbewegung entgegen und kickten mir in die Seite.
Wenn ich aber nun wieder an den Beinen schob, rutschte der Oberkörper zurück. Es war eine Krux. Irgendwann hing die schwere Frau zwischen Sektionstisch und Trage und ich sah sie schon mit Schmackes auf dem Boden landen. Ich überlegte mir also etwas anderes und ging auf die andere Seite des Sektionstisches, beugte mich (zum Glück gut beschürzt) komplett über den leeren Sektionstisch, griff mir ihren rechten Arm und das rechte Bein, stemmte mein rechtes Bein gegen den Sektionstisch und zog. Und zog und zog und zog. Es macht FLOTSCH und sie kam mir akut schwungvoll entgegen und wäre mir beinahe auf meiner Seite vom Tisch gerutscht. Sie hätte mich auf dem Boden begraben. Begraben in der Leichenhalle. Man beachte den Zynismus dieser Situation.
Als ich sie endlich auf dem Tisch liegen hatte, entschuldigte ich mich in Gedanken tausendmal bei ihr, denn es wäre unendlich respektlos erschienen, die Dame auf den Boden knallen zu lassen. Aber angesichts der skurrilen Situation konnte ich trotzdem nicht aufhören, in mich hineinzugrinsen. Nach einigen Minuten Verschnaufpause begann ich dann endlich mit der Sektion.
Nach anstrengenden und vollen Tagen in der Praxis denke ich mit Wehmut an die Arbeit dort zurück und frage mich, warum ich nicht einfach Pathologin wurde. Ah, doch, jetzt weiß ich es wieder: weil man mich nach meiner Schwangerschaft nicht mehr dort haben wollte und mich in eine 80 km entfernte Abteilung versetzte. Weil: „Du hilfst uns nicht mehr, also helfen wir Dir auch nicht mehr.“
Mit Säugling zu Hause war das nicht zu machen. Auch mit Kleinkind wäre es nicht zu machen gewesen. Also ging ich in die Forschung und arbeitete bereits nach fünf Monaten Elternzeit wieder drei volle Tage in der Woche und war auch dort eigentlich ganz zufrieden. So kam ich wieder in Kontakt mit lebenden Patienten und der Klinik. Dass mein Weg mich dann in Richtung Pfirsichliebhaber, Antibiotikauspendler und Reanimationsignoranten führen würde, dachte ich damals nicht. Aber ich dachte auch nicht, dass ich so viele Patienten in mein Herz schließen würde. Die Frau Müllers und Herr Meiers, die Kaffeemitbringer und die Mir-um-den-Hals-Faller.
Anmerkung der Bloggerin: Nicht alles würde ich heute noch so schreiben, bspw. dass ich mit Wehmut an die Pathologie zurückdenke. Das tue ich nicht mehr. Ich möchte keinen anderen Beruf als meinen machen. Dennoch kann ich meine Gedanken von „damals“ noch nachvollziehen und natürlich ändere ich auch in meinem Blog keine Buchkapitel ab.
Bildquelle: No Revisions, Unsplash