Wenn zwei Patienten mit Verdacht auf Herzinfarkt eingeliefert werden, denken wir beim dritten mit passenden Symptomen automatisch auch daran. Warum das gefährlich ist und wie ihr solche Schnellschüsse verhindert.
Unser Denken ist anfällig für kognitive Verzerrungen (engl.: cognitive bias). Ursache dafür sind unsere Denkprozesse, an denen zwei Systeme beteiligt sind. Das schnelle System ist meist aktiv und besonders fehleranfällig. Hier haben wir berichtet, warum dies für den diagnostischen und therapeutischen Prozess relevant ist. Ein häufiger Bias ist der sogenannte Framing Bias, bei dem ein früh im diagnostischen Prozess auftauchendes und hervorstechendes Merkmal als Rahmen (frame) dient, durch den alle weiteren Informationen verzerrt werden können. Wie dieser Bias Ärzte und Patienten beeinflussen und unter Umständen sogar gefährden kann, darüber haben wir hier berichtet.
Der Framing Bias ist aber nur die Spitze des Eisbergs – es gibt weitere Fehler, die unser Denken beeinflussen und die in der Arbeit mit Patienten regelmäßig negative Auswirkungen auf den therapeutischen Erfolg haben. Wir stellen euch drei wichtige Fehler am konkreten Beispiel vor, die es zu kennen und vermeiden gilt.
Der hausärztliche Notdienst hat im aktuellen Dienst schon drei Patienten in die Notaufnahme des Krankenhauses eingewiesen, die über typische Symptome eines Herzinfarkts geklagt hatten. Der nächste Patient ist ein 60-jähriger Mann, der übergewichtig ist und seit 30 Jahren raucht. Er klagt über Schwindel und verschwommenes Sehen, außerdem fühle er sich allgemein schlapp. Auch dieser Patient erhält die Verdachtsdiagnose eines Herzinfarkts und wird eingewiesen. Dabei wurde übersehen, dass der Patient Zeichen einer Exsikkose zeigte, die seine Beschwerden besser erklären als ein Herzinfarkt. Er hatte wenig getrunken und den Tag in der Sonne bei der Gartenarbeit verbracht. Da der Arzt aber zuletzt drei Patienten mit typischer Herzinfarkt-Symptomatik gesehen hatte, war diese Diagnose für ihn leichter verfügbar (engl.: available).
Hier trat der Availability Bias zum Vorschein. Dabei werden Dinge (oder Diagnosen) als umso wahrscheinlicher eingeschätzt, je leichter sie einem in den Sinn kommen. Kürzlich gemachte Erfahrungen mit einer Krankheit führen dann dazu, dass diese Krankheit mit einer höheren Wahrscheinlichkeit noch einmal diagnostiziert wird. Umgekehrt kann es passieren, dass eine Krankheit, die man länger nicht mehr gesehen hat, unterdiagnostiziert wird, da sie in den Gedanken weniger gut verfügbar ist.
Eine 82-jährige Patientin mit bekannter Polyarthrose klagt über zunehmend starke Rückenschmerzen. Sie wird von ihrem Arzt lediglich zu Charakter und Intensität der Schmerzen befragt und erhält daraufhin ein Schmerzmittel. Diagnostisch werden die Schmerzen aufgrund der bekannten Polyarthrose vermuteten degenerativen Wirbelsäulenveränderungen zugeordnet. Die Patientin hatte außerdem über die letzten Wochen stark an Gewicht verloren, sie hielt dies aber im Zusammenhang mit den Rückenschmerzen nicht für wichtig und wurde von ihrem Arzt auch nicht explizit danach gefragt, so dass dieses Symptom in Bezug auf die Diagnose nicht berücksichtigt wurde. Die Symptome könnten auch durch eine Tumorerkrankung bedingt sein, in diese Richtung wurde aber nicht weiter untersucht.
Schuld daran war der Confirmation Bias. Damit wird die Neigung beschrieben, nur nach bestätigenden Informationen für die einmal gestellte Verdachtsdiagnose zu suchen und Informationen, die gegen die Verdachtsdiagnose sprechen, weniger zu beachten. Aufgrund der bereits bekannten Vordiagnose einer Polyarthrose wurde dem Symptom des starken Gewichtsverlustes, der für eine andere Erkrankung sprechen kann, weniger bzw. kein Gewicht verliehen.
In einer multidisziplinären onkologischen Team-Besprechung wird der Fall eines älteren Patienten mit einer fortgeschrittenen Tumorerkrankung besprochen. Es gibt unterschiedliche Meinungen bezüglich des weiteren Vorgehens. Einige Team-Mitglieder würden eine palliative Therapie bevorzugen, andere den Versuch einer aufwendigen Operation. Der Chefarzt bevorzugt eher die operative Therapie. Einige Team-Mitglieder äußern sich ebenfalls für die operative Therapie, obwohl sie eigentlich denken, dass eine palliative Therapie eher im Sinne des Patienten wäre. Sie gehen aber davon aus, dass die meisten anderen eh der Meinung des Chefs sein werden und sich diese Meinung am Ende durchsetzen wird.
Diese im Englischen als Bandwagon Effect bezeichnete Neigung, sich bei Entscheidungen an der Mehrheitsmeinung zu orientieren, kann im Deutschen als Mitläufer-Effekt beschrieben werden. Die Mehrheitsmeinung zu übernehmen, führt dazu, dass man sich der Gruppe zugehörig fühlt und nicht unangenehm auffällt.
Um die genannten Fehler zu vermeiden, wird unter anderem vorgeschlagen, besonders bei ungewöhnlichen Fällen über die eigene Entscheidungsfindung nachzudenken und diese kritisch zu hinterfragen (Metakognition). Eine Möglichkeit ist es, aktiv nach alternativen Erklärungen für die Symptome zu suchen. Außerdem kann das Abarbeiten von Checklisten oder der Austausch mit Kollegen helfen, die den Fall nochmal von einem anderen Blickwinkel betrachten können und so vielleicht zu einem anderen Ergebnis kommen.
Bildquelle: erstellt mit Midjourney