Lange galt Abstinenz als einzig wahre Strategie bei Alkoholabhängigkeit – womöglich reicht es aber fast abstinent zu sein. Doch bei kontrolliertem Trinken sollten Ärzte Patienten erst recht unterstützen. Zwei wichtige Medikamente schneiden hier ähnlich gut ab.
Bei Cannabis zu Genusszwecken kochen nach wie vor die Emotionen hoch. Im Unterschied dazu ist die gesellschaftliche Einstellung zu Alkohol seit Jahren nahezu unverändert – und zwar immer noch recht positiv. Dabei wäre ein kritischer Blick angebracht: Laut Robert-Koch-Institut trinken 14 Prozent aller Frauen und 18 Prozent aller Männer Alkohol in riskanten Mengen. Das entspricht bei Frauen täglich mehr als 12 Gramm und bei Männern täglich mehr als 24 Gramm reinen Ethanols. Während der Pandemie ist der Konsum weiter angestiegen.
Schätzungsweise 19.000 Frauen und 43.000 Männer sterben bundesweit an einer nur auf Alkohol zurückzuführenden Todesursache. Das muss nicht sein: Denn Patienten profitieren durchaus von Psycho- und Pharmakotherapien. Und bei den Zielen solcher Behandlungen macht sich langsam, aber sicher ein Umdenken bemerkbar.
Lange Zeit galt Abstinenz als einzig wahre Strategie. Allerdings verhindern solche Behandlungsziele, dass manche Patienten mit Alkoholabhängigkeit überhaupt in Therapie gehen. Laut Elderly Study haben Betroffene selbst ganz unterschiedliche Vorstellungen. Personen mit einer sehr spät einsetzenden Alkoholabhängigkeit tendieren dazu, eine vorübergehende Abstinenz jedem anderen Behandlungsziel vorzuziehen. Menschen mit einer früh einsetzenden Alkoholabhängigkeit wünschen sich eher eine dauerhafte Abstinenz. Das ist zu berücksichtigen – und zu respektieren.
Doch wie wirksam sind Behandlungsstrategien ohne Abstinenz im Vergleich zu abstinenzbasierten Strategien? Um das herauszufinden, haben Forscher die wissenschaftliche Literatur gesichtet. Ihre Metaanalyse umfasst 22 Studien mit 4.204 Patienten, darunter fünf randomisiert-kontrollierte Studien. „Die verfügbaren Daten sprechen nicht für Abstinenz als einzigen Ansatz bei der Behandlung von Alkoholproblemen“, schreiben die Autoren. „Kontrolliertes Trinken, insbesondere, wenn es durch eine spezifische Psychotherapie unterstützt wird, scheint eine praktikable Option zu sein, wenn ein abstinenzorientierter Ansatz nicht anwendbar ist.“
Patienten benötigen auch beim kontrollierten Trinken Unterstützung. Neben der Teilnahme an Psychotherapien und Selbsthilfegruppen sind Medikamente wichtiger denn je. Doch welche Unterschiede gibt es zwischen verschiedenen Wirkstoffen? Das wollten Forscher mit einem Review herausfinden. Sie berücksichtigten Daten aus 118 klinischen Studien mit 20.976 Teilnehmern.
Die beste Datenlage gab es zu Acamprosat und zu Naltrexon. Studien mit Naltrexon zeigen bei der oralen Dosis von 50 mg pro Tag im Vergleich zu Placebo eine moderate Evidenz dafür, dass sich die Rückkehr zu jeglichem Alkoholkonsum, die Rückkehr zu starkem Alkoholkonsum, der Prozentsatz der Trinktage und der Prozentsatz der Tage mit starkem Alkoholkonsum verringern. Für die orale und injizierbare Dosis von 100 mg/Tag lagen zu wenige Daten vor, um belastbare Aussagen zu treffen.
Studien mit Acamprosat ergaben im Vergleich zu Placebo eine moderate Evidenz für eine signifikante Verringerung der Rückkehr zum Alkoholkonsum und eine Verringerung der Trinktage. Acamprosat war nicht mit einem Nutzen verbunden, um starkes Trinken zu vermeiden.
Für Patienten erweist sich orales Naltrexon als recht praktisch; sie müssen das Präparat pro Tag nur einmal schlucken. Acamprosat ist meist dreimal täglich einzunehmen, was eine entsprechende Bereitschaft – und Zuverlässigkeit – der Patienten voraussetzt. Acamprosat moduliert die GABA-Rezeptoren und fördert ein Gleichgewicht zwischen erregenden und hemmenden Signalen im Gehirn. Bei Naltrexon vermuten Wissenschaftler, dass die Wirkung als Opioid-Antagonist die Bindung körpereigener Opioide an Rezeptoren blockiert. Diese Rezeptoren sind an der Freisetzung von Dopamin im Belohnungssystem des Gehirns beteiligt.
Bei der Metaanalyse wurden auch Off-Label-Therapien berücksichtigt. Disulfiram löst Unverträglichkeitsreaktionen mit Alkohol aus. Es gibt jedoch kaum Belege für die Wirksamkeit von Disulfiram im Vergleich zu Placebo. Die Autoren haben nur vier Studien mit je 15 oder weniger Teilnehmern gefunden. Auf dieser Grundlage waren keine evidenzbasierten Aussagen möglich. Disulfiram ist in Deutschland nicht mehr zugelassen.
Studien mit dem Antikonvulsivum Topiramat im Off-Label-Einsatz im Vergleich zu Placebo haben moderate Beweise für eine signifikante Verringerung der Trinktage, der Tage mit starkem Alkoholkonsum und der Alkoholmenge pro Trinktag ergeben. Topiramat war jedoch mit deutlich mehr Nebenwirkungen verbunden als zugelassene Wirkstoffe. Dazu zählten unter anderem kognitive Dysfunktion, Schwindel, Taubheitsgefühl und/oder Kribbeln sowie Geschmacksstörungen. Topiramat moduliert das Glutamat-System im Gehirn.
Baclofen im Off-label-Einsatz war im Vergleich zu Placebo mit signifikant geringeren Rückkehrraten zu jeglichem Alkoholkonsum verbunden. Aufgrund von Schwächen bei der Effektabschätzung und aufgrund inkonsistenter Ergebnisse haben die Daten jedoch nur wenig Aussagekraft. Nicht zuletzt konnten die Autoren bei Off-Label-Gabapentin versus Placebo keine signifikanten Effekte aufspüren.
Damit bleibt als Fazit: „In Verbindung mit psychosozialen Maßnahmen unterstützen diese Ergebnisse die Verwendung von oralem Naltrexon in einer Dosierung von 50 mg/Tag und Acamprosat als Erstlinien-Pharmakotherapie bei Alkoholproblemen“, schreiben die Autoren.
Bildquelle: Vinicius "amnx" Amano, Unsplash