Die Berichte in den Medien sind verstörend: sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe, Missbrauchsskandale in sozialen Einrichtungen. Wie können Ärzte helfen und welche Wünsche stehen am Ende eines bewegten Jahres?
Weihnachten und die Zeit zwischen den Jahren sind für viele unter uns Gelegenheiten des Innehaltens. Wir blicken zurück auf ein weltpolitisch schwieriges Jahr und das Leid der betroffenen Menschen lässt niemanden kalt. Durch unsere medizinischen Ausbildungen haben wir uns der Hilfe von kranken, leidenden und in Not geratenen Menschen verschrieben. Die wenigsten von uns arbeiten bei einer Organisation wie Ärzte ohne Grenzen vor Ort. Aber jeder kann an seinem Platz entweder konkret oder zumindest als Vermittler helfen, wenn es um sexuelle Gewalt an Frauen und Kindern geht.
In Deutschland wird jährlich jede dritte Frau Opfer von Gewalt. Dabei handelt es sich um Körperverletzungen, sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen, Freiheitsberaubungen, Bedrohungen, bis hin zu Tötungsdelikten. Etwa ein Viertel aller Frauen erlebt Gewalt in der Partnerschaft. Die WHO sieht hierin, wie in allen anderen Formen sexueller Übergriffe an Frauen, weltweit deren größtes Gesundheitsrisiko.
Mitarbeitende im Gesundheitssystem sind nicht selten die erste Anlaufstelle, wenn es um typische körperliche Verletzungen wie Hämatome, Frakturen und Platzwunden, aber auch psychische und psychosomatische Symptome geht. Treten bisher unbekannte Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Ängste, Panikattacken oder posttraumatische Belastungsstörungen jeglicher Art auf, ist genaues Hinhören erforderlich. Ebenso bei Medikamentenmissbrauch, Drogenkonsum oder Alkohol- und Nikotinabusus.
Wir werden durch den Zustrom von geflüchteten Frauen in Zukunft häufiger mit den körperlichen Auswirkungen von Genitalbeschneidungen (Female Genital Mutilation/Cutting, FGM/C), brutalen Vergewaltigungen und unsachgemäßen gynäkologischen und geburtshilflichen Therapien konfrontiert werden. Für die betroffenen Frauen stellt FGM/C ein ernsthaftes Gesundheitsrisiko dar und kann besonders bei Schwangerschaft und Geburt zu schwerwiegenden Komplikationen für Mutter und Kind führen.
„Weltweit gibt es in 34 Ländern über 200 Millionen betroffene Frauen und Mädchen mit weiblicher Genitalverstümmelung. Allein in Deutschland leben schätzungsweise fast 75.000 Betroffene, davon in Baden-Württemberg knapp 8.000“, so das Freiburger Zentrum für Frauen mit Genitalbeschneidung in der Unifrauenklinik. Hier werden eine eigene Sprechstunde und spezielle Therapiemöglichkeiten für Betroffene angeboten. Weiterhin können sich auch ratsuchende Kollegen an das Zentrum wenden.
„Du wirst sexuell belästigt, hast einen sexualisierten Übergriff erlebt oder wurdest sexuell missbraucht? Du bist verunsichert und brauchst einen Rat oder Unterstützung?“, heißt es auf der Homepage von Aufschrei, einer örtlichen Hilfsorganisation im Südwesten, die Beratung und Begleitung durch sozialtherapeutische Fachkräfte anbietet. Vergleichbare Angebote gibt es in vielen Städten Deutschlands.
Zur Erstversorgung, Hilfe und forensischer Dokumentation nach sexualisierter Gewalt können betroffene Frauen und Mädchen die nächstgelegene Frauenklinik aufsuchen.
In der gynäkologischen, pädiatrischen oder allgemeinmedizinischen Sprechstunde gibt es neben den typischen Hinweiszeichen auf eine mögliche Gewalterfahrung noch weitere spezifische Merkmale, die einen sexuellen Übergriff in die Differentialdiagnose miteinfließen lassen.
Kleine Mädchen mit vaginalem Ausfluss, insbesondere mit Hinweiszeichen auf sexuell übertragbare Krankheiten wie Chlamydien oder Trichomoniasis, fallen in diesen Bereich. Rissverletzungen, Hämatome oder ungewöhnliche Rötungen des äußeren Genitals bei Kindern, mitunter auch bei erwachsenen Frauen, gehören dazu. Eine klaffende Analöffnung bei Kindern ist höchst verdächtig. Weiterhin können unklare Unterbauchbeschwerden und auffällig verändertes Sozialverhalten auf sexualisierte Gewalterfahrungen hinweisen. Oftmals nässen sich Kinder plötzlich nachts wieder ein und haben häufiger Albträume. Manche Patientinnen vertrauen sich auch innerhalb der gynäkologischen Sprechstunde mit diesen Sorgen um ihr Kind an. Schwangerschaften bei sehr jungen Patientinnen, die den Kindsvater unbedingt geheim halten möchten, können ein Hinweis auf ein Missbrauchsgeschehen sein.
Sexueller Missbrauch und Gewalt gegen Frauen sind äußerst sensible Themen in der ärztlichen Sprechstunde oder bei Untersuchungen durch Hebammen. Hier ist absolutes Fingerspitzengefühl gefragt. Zeitdruck und schnelles Übergehen zum Routineablauf sind kontraproduktiv. Patientinnen nach Gewaltverletzungen im äußeren Genitalbereich benötigen Experten, die eine operative Rekonstruktion und damit ein normales Leben bzw. eine Spontangeburt möglich machen. Durch sexuelle Gewalt traumatisierte Frauen und Kinder bedürfen spezieller psychosozialer Therapieformen.
Wichtig ist, zunächst überhaupt an die Möglichkeit von sexualisierter Gewalt zu denken, wenn entsprechende Hinweiszeichen oder Konstellationen vorliegen. Allerdings ist die Gratwanderung, auf die man sich hierbei begibt, enorm: Sowohl ein nicht aufgedeckter sexueller Übergriff als auch ein zu Unrecht beschuldigter Tatverdächtigter können Familien und Leben zerstören. Aus diesem Grund sind professionelle Beratung und Hilfestellung durch Fachleute äußerst wichtig. Man kann die Situation anonymisiert schildern und sich kompetenten Rat über weitere Vorgehensweisen einholen.
Vereinfachend ist es, wenn die Betroffenen bereit sind, sich Experten anzuvertrauen, um das weitere Prozedere, wie eine eventuelle Strafanzeige und psychosoziale Betreuungsangebote, abzustimmen. Die Aufgabe für Mitarbeitende im Gesundheitswesen besteht zunächst im Erkennen von Missbrauch und Gewalt, danach im Beraten und Weiterleiten an die entsprechenden Fachkompetenzen.
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