Diabetes und Ernährung hängen eng zusammen – so weit, so klar. Wenn dann noch eine Essstörung dazukommt, wird es gerade für junge Patienten gefährlich. Erfahrt hier, wie sich die Problematik bei Typ-1- und Typ-2-Diabetikern unterscheidet.
In einer Zeit, in der Adipositas und eine vormals auch als Altersdiabetes bezeichnete Erkrankung sogar Kinder im Vorschulalter betrifft, muss der Fokus verstärkt auf fehlerhaften Ernährungsroutinen liegen. Dabei ist zwischen einem gestörten Essverhalten im Sinne einer ungünstigen, potenziell diabetogenen Lebensmittelauswahl (hyperkalorisch, zuckerreich) einerseits und „echten“ Essstörungen im Sinne einer ICD-indizierten, psychogenen Erkrankung, zu unterscheiden. Dem Typ-2-Diabetes (T2D) geht oft ein insgesamt die Insulin- und Blutzuckerregulation irritierender Lebensstil mit adipogener bzw. einen hohen proinflammatorischen Viszeralfettanteil fördernden Lebensweise (Bewegungsarmut, Ernährung, Rauchen) voraus. Doch gibt es kaum konsistente Daten, wie hoch der Anteil an T2-Diabetikern ist, die bereits vor der Diagnosestellung eine mitursächliche Essstörung gemäß ICD-Katalog aufweisen.
Das vom Deutschen Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt am Helmholtz Zentrum München herausgegebene Diabetesinformationsportal nennt für das als häufigste Essstörung von diagnostizierten T2-Diabetikern eruierte Binge-Eating (BES) eine Prävalenz zwischen 5,6 bis 7,5 Prozent. Das ist höher als für die Gesamtbevölkerung angegeben (2–3 Prozent), übersteigt aber nicht die für adipöse Studienkohorten ohne T2D-Diagnose ermittelten Werte. Ohnehin sind diese Daten sehr volatil und reichen bis zu 30-prozentigen Prävalenzwerten bei Teilnehmergruppen von Gewichtsreduktionsprogrammen.
Da die Datenerhebungsmethoden, Altersstrukturen und Geschlechterverteilungen zum Teil deutlich variieren, ist es kaum möglich, valide Prävalenzdaten zu präsentieren. Auch sind die definitorischen Krankheitskriterien – wiederholte Essanfälle mit Kontrollverlust und Fehlen kompensatorischer Maßnahmen – recht weit gefasst. So gibt es auch im ICD10/11 keinen separaten Binge-Eating-Schlüssel. Die Einordnung erfolgt unter F50.4 (Essattacken bei anderen psychischen Störungen) oder F50.9 (Essstörung, nicht näher bezeichnet).
Nicht zuletzt ist das Eingeständnis, unter BES zu leiden, gerade für adipöse Menschen selbst Ärzten gegenüber sehr schambehaftet, was aufgrund des Fehlens objektiver Laborparameter zu weiteren Unsicherheiten und einer Dunkelziffer in unbekannter Höhe führt. Insgesamt sprechen aber die fehlenden Hinweise auf eine Erhöhung der Essstörungsprävalenz nach T2D-Diagnose gegen eine kausal durch T2D ausgelöste Erkrankung. Eher ist der umgekehrte Wirkungszusammenhang, die zumindest anteilig kausale Einflussnahme von BE-Störungen auf die T2D-Pathogenese wahrscheinlich, ohne dass dies eine notwendige Voraussetzung wäre. Die vergleichbaren BES-Raten von adipösen Menschen mit und ohne T2D legen diese Hypothese zumindest nahe.
Nach den auf der Herbsttagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft im November 2023 vorgestellten Daten zählt Deutschland zu den 10 Ländern mit der weltweit höchsten T1D-Prävalenz. Unter insgesamt etwa 372.000 diagnostizierten T1-Diabetikern sind in Deutschland etwa 37.700 Kinder und Jugendliche im Alter von 0 bis 19 Jahren. Pro Jahr kommen etwa 3.500 Neuerkrankungen hinzu. Die Erkenntnis, dass es insbesondere bei weiblichen Heranwachsenden/jungen Frauen eine deutlich erhöhte Prävalenz von klinisch manifestierten Essstörungen gibt, die vor der Diabetes-Diagnose noch nicht bestanden, ist nicht neu. Bereits in den frühen 1980er Jahren wurden erste Studien mit allerdings sehr niedrigen Probandenzahlen zu dieser heiklen Kombination publiziert (hier und hier). Bereits damals wurde auf die besonderen Gefahren von gezielt zum Zwecke der Gewichtsabnahme reduzierten Insulin-Injektionen – heute als „Insulin-Purching“ bezeichnet – hingewiesen.
Nach Angaben der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) steigt die Essstörungshäufigkeit nach einer T1D-Diagnose im Vergleich zu Stoffwechsel-gesunden Kohorten gleichen Alters um den Faktor zwei bis drei. Das deckt sich mit Metaanalysen, die in den letzten zwei Dekaden durchgeführt wurden. Doch gibt es hinsichtlich der Inzidenzzahlen eine große Spannbreite, was auch der mitunter unscharfen Trennung zwischen gestörtem Essverhalten (Disturbed Eating Behaviour, DEB)) und definierter Essstörung (Eating Disorder, ED) geschuldet ist.
Zudem kann T1D zwar in jedem Lebensalter diagnostiziert werden, doch in der Mehrzahl der Fälle wird die Diagnose im Kindes- oder Jugendalter gestellt. Die Nähe dieser Altersgruppen zur im Hinblick auf Essstörungen hochsensiblen Pubertät ist somit bei der Bewertung von Studienergebnissen von besonderer Relevanz. Young et al. ermittelten 2013 in einer Metastudie für adoleszente T1D-Patienten eine ED-Rate von 7,0 Prozent gegenüber 2,8 Prozent in der gesunden Vergleichskohorte. Colton et al. (2013) kommen in ihrer Analyse bei weiblichen T1D-Patienten im Teenageralter auf eine ED-Häufigkeit (subklinisch und voll ausgeprägt) von 13,3 Prozent. Insgesamt bewegen sich die Angaben zur ED-Prävalenz von vorwiegend jungen weiblichen T1D-Patinetn im Bereich von 10 Prozent. Ein gestörtes Essverhalten, das nicht die Kriterien einer manifesten Essstörung erfüllt, weisen je nach Quelle zwischen etwa einem Drittel und annähernd der Hälfte der jungen T1-Diabetikerinnen auf. Analog dem stoffwechselgesunden Bevölkerungsanteil sind Mädchen/junge Frauen etwa 10-fach häufiger von einer Essstörung betroffen als männliche T1-Diabetiker der gleichen Altersstufen.
Die Literaturrecherche liefert für den T1D eine deutliche Dominanz von Essstörungen aus dem bulimischen Formenkreis, wohingegen für die Magersucht/Anorexie keine erhöhte Prävalenz gegenüber Stoffwechselgesunden belegt ist. Das Spektrum der diskutierten Auslösefaktoren für die Bulimiegenese ist breit. So seien viele Jugendliche vor ihrer T1D-Diagnosestellung untergewichtig. Die mit Beginn der Insulintherapie rasch einsetzende Gewichtszunahme verursacht gerade bei pubertären weiblichen Jugendlichen Ängste, die bei möglicherweise genetisch prädisponierten Personen das Essstörungsrisiko steigern. Das als Kontrollzwang empfundene Gefühl, sich nach der Diabetesdiagnose ständig mit dem „Was, Wann und Wieviel“ der Nahrungsaufnahme, mit Kohlenhydratmengen und Insulindosierungen beschäftigen zu müssen, „nervt“.
Die Empfindung, nicht mehr unbeschwert essen zu können wie die Freunde aus der Peergroup einerseits und die Unsicherheit im Umgang mit Gewichtszunahme andererseits werden als relevante Verstärker für die Bulimiegenese genannt. Die wiederholten Essanfälle ließen sich nach Meinung vieler Experten als Flucht aus dem gefühlten Korsett der diabetischen Ernährungsregularien deuten. Hinzu kämen Ängste, die aus den von den behandelnden Ärzten erhaltenen Informationen zu den Gefahren von Blutzuckerentgleisungen resultierten. Die von entsprechend sensiblen jungen Menschen als belastender Druck empfundene Gesamtsituation steigert die Motivation, der aufgezwungenen Kontrolle zu entfliehen. Ungezügelte Nahrungsauswahl ohne Mengenbeschränkung kombiniert mit kompensatorischen Gegenmaßnahmen, um der drohenden Gewichtszunahme zu begegnen, gewinnen an Attraktivität.
Während Bulimie in der Allgemeinbevölkerung vor allem als Ess-Brechsucht bekannt ist, weiß die Fachwelt, dass neben willkürlich herbeigeführtem Erbrechen auch Laxantien-Abusus, extensiver Sport und weitere kompensatorische Maßnahmen zum „Ungeschehenmachen“ ungezügelter Essattacken angewendet werden. Im Falle T1-diabetischer Patienten kommt das Reduzieren oder gar völlige Auslassen von Insulindosen hinzu. Die Zusammenhänge dieser mit Diabulimie oder Insulin-Purching beschriebenen Konstellation haben Dalle Grave et al. 2021 eindrücklich beschrieben.
Mit den Gesundheitskrisen, die mit wiederholten Blutzuckerentgleisungen einhergehen, sind die medizinisch ausgebildeten und praktisch erfahrenen DocCheck-Leser vertraut. Auf die aus der Kombination von T1D und bulimischer Essstörung resultierende Gefahrenpotenzierung – von akuten schweren Hypoglykämien und Ketoazidosen bis hin zu mikrovaskulären und neurologischer Komplikationen (Nephropathie, Retinopathie, Fußsyndrom, periphere und vegetative Neuropathien) – muss somit nicht näher eingegangen werden.
Obwohl die erhöhte Essstörungsprävalenz, besonders von jungen weiblichen T1D-Patienten, seit 40 Jahren dokumentiert ist, wird in der aktuellen Literatur wiederholt von einer unzureichenden Sensibilität für das Vorliegen von Essstörungen in der medizinischen Betreuung von T1D-Patienten berichtet. Essstörungen würden übersehen, weil Hausärzte oder Diabetologen nicht daran dächten.
Stimmt das? Als nicht-ärztlich Tätiger kann sich der Autor dieses Beitrags hier keine Urteil erlauben. Daher die Frage an die DocCheck-Gemeinde: Wie Sind Ihre Erfahrungen aus der ärztlichen Praxis? Wie hoch ist Ihre Sensibilität gegenüber möglichen Essstörungen, von denen T1D-Patienten betroffen sein könnten? Wie häufig werden Sie mit dem möglichen Vorliegen einer T1D-assoziierten Essstörung und Insulin-Purging-Problemen konfrontiert und was ist dann Ihre Strategie?
Weitere Quellen:
Szmukler et al. Diabetes Mellitus, Anorexia Nervosa and Bulimia. British Journal of Psychiatry, 1983. doi: 10.1192/bjp.142.3.305.
Szmukler. Anorexia nervosa and bulimia in diabetics. Journal of Psychosomatic Research, 1984. doi: 10.1016/0022-3999(84)90067-9.
Young et al. Eating problems in adolescents with Type 1 diabetes: a systematic review with meta-analysis. Diabetic Medicine, 2013. doi: 10.1111/j.1464-5491.2012.03771.x.
Colton et al. Depression, disturbed eating behavior, and metabolic control in teenage girls with type 1 diabetes. Pediatric Diabetes, 2013. doi: 10.1111/pedi.12016.
Grave et al. Complex Cases and Comorbidity in Eating Disorders: Assessment and Management. Springer Nature, 2021. doi: 10.1007/978-3-030-69341-1.
Bildquelle: erstellt mit DALL-E