Ob Injektionen bei Kindern oder operative Eingriffe – VR-Brillen können Schmerzempfindungen, Ängste und Stress bei Patienten reduzieren. Können Ärzte so in Zukunft Analgetika sparen?
Die Idee ist trivial, aber wirksam: Wer Kinder hat, weiß, was bei Schmerzen zu tun ist. Eltern sollten Empfindungen ihrer Sprösslinge nicht nur ernst nehmen, sondern schnell und effektiv davon ablenken. Dieses Prinzip steckt auch hinter dem Einsatz von virtueller Realität (VR) bei akuten oder chronischen Schmerzen. „Digitale Therapien über Virtual Reality und Apps können einen Beitrag leisten, um eine Schmerztherapie zu ergänzen und zu unterstützen“, erklärt Prof. Axel Schäfer von der Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim anlässlich des Deutschen Schmerzkongresses 2023.
Immersion, also das Gefühl, vollständig in eine virtuelle Umgebung eingetaucht zu sein, gilt als Schlüsselelement für ein überzeugendes und realistisches VR-Erlebnis. Hochwertige Grafiken, 3D-Effekte und realistische Visualisierungen tragen dazu bei, dass die visuelle Erfahrung in der VR-Umgebung möglichst echt und beeindruckend wirkt. VR-Brillen zeigen Bilder für jedes Auge getrennt an, um einen 3D-Effekt zu erzeugen und die Illusion von Tiefe zu schaffen. Darüber hinaus sind auditive und haptische Aspekte möglich.
Forscher haben VR-Brillen unter vielfältigen Bedingungen getestet, etwa zur Schmerzlinderung bei intravenösen Injektionen bei Kindern, bei der Therapie von Herzerkrankungen oder bei Spiegelungen der Gebärmutter (Hysteroskopien). Auch bei Patienten mit chronischen Schmerzen unterschiedlicher Ursache kommen VR-Brillen immer häufiger zur Anwendung.
Bei chronischen Schmerzen spielt die Gamification eine Rolle, also die spielerische Integration von Therapien in die VR, um zu lernen, wie es gelingt, mit Schmerzen umzugehen. Das Besondere sei etwa, dass Patienten in der VR die Möglichkeit hätten, „den eigenen Körper als Avatar wieder als beweglich zu erleben, als stark, gesund und fähig genug zu klettern, zu laufen oder zu springen“, sagt Schäfer.
Bei akuten Schmerzen hingegen geht es mehr um Ablenkung: Patienten begeben sich mit VR-Brillen in andere Welten. Der Hersteller Magic Horizons wirbt damit, dass das Schmerzempfinden während der Behandlung reduziert und Stress und Angst verringert würden. Und auch für das Gesundheitspersonal sei die VR ein Segen, meinen die Hersteller – zur Entspannung und Steigerung der Resilienz etwa, wenn die Angestellten in Pausen die Geräte selbst nutzen. Burnout und Erschöpfung ließen sich so vermeiden, heißt es bei Magic Horizons.
Firmen setzen auf entspannte Traumwelten als audiovisuelle Kombination. Während Patienten mit Augen, Ohren und Empfinden in anderen Welten verweilen, können Ärzte zur Tat schreiten. Dadurch gelingt es in einigen Fällen, auf Analgetika bzw. Anästhetika ganz zu verzichten – oder zumindest deren Dosis zu verringern.
Ein aktuelles Review, in das 122 randomisierte, klinische Studien mit insgesamt 9.138 Teilnehmern eingeschlossen wurden, zeigt, dass virtuelle Realität zur Linderung akuter, chronischer und verfahrensbedingter Schmerzen wirksam ist. Angst und Schmerz interagieren oft verstärkend miteinander und auch hier gibt es Studien, in denen das akute Schmerzempfinden von Interventionen zwar nicht gesenkt wurde, aber das Angstempfinden und der erlebte Stress, etwa im Fall der Hysteroskopie.
Die Autoren einer Übersichtsarbeit kommen zu dem Schluss, dass „VR eine sichere, wirksame und arzneimittelfreie Lösung für die Schmerzbehandlung bei erwachsenen Patienten im Krankenhaus“ sei. Solche Angebote für Patienten mit akuten Schmerzen in der stationären Behandlung könnten dazu beitragen, das Schmerzlevel zu verringern. Und mehr noch: Andere Studien belegen, dass gerade bei Kindern VR gut funktioniert, um Schmerzen zu verringern.
Dennoch bleiben Analgetika oder spezielle Pharmaka in einigen Fällen Mittel der Wahl. Schäfer meint, bei Kopfschmerz- und Migränepatienten seien VR-Brillen nicht erprobt. Sie könnten auch selbst Kopfschmerzen auslösen. Hier besteht noch Forschungsbedarf.
Alles in allem liefern die Studien klare Argumente für die Technologie. Doch warum sind VR-Brillen in Praxen oder Kliniken nur selten zu finden? Auf dem Markt gibt es einige VR-Systeme mit entsprechender Zulassung als Medizinprodukt, teilweise auch von der FDA. Und auf Medizinmessen wie der Medica waren Hersteller schon vertreten.
Hürden sind derzeit die hohen Preise, vor allem, wenn Patienten mit chronischen Schmerzen dauerhaft ein Gerät für den Einsatz zu Hause benötigen. Auch der Umgang mit Hard- und Software ist zu erlernen. Doch wie bei IT-Systemen generell gilt auch bei VR-Brillen: Je weiter die Technik voranschreitet, desto besser, günstiger und anwendungsfreundlicher wird sie.
Bildquelle: Getty Images, Unsplash