Eine Patientin stellt sich mit plötzlichem starkem Schwindel vor. Alleine Gehen ist kaum möglich und ihr ist durchgehend übel, sonst hat sie keine Symptome. Also erstmal MRT? Was euch schneller zur Diagnose führt, erfahrt ihr hier.
Eine 52-jährige Patientin stellt sich wegen Schwindel in der Notaufnahme vor. Nachdem sie am Vortag beschwerdefrei ins Bett gegangen war, hatte sie beim Aufwachen einen heftigen Schwindel bemerkt. Sie konnte nicht gerade laufen, musste sich an der Wand festhalten, um auf Toilette zu kommen. Sie hat mehrfach erbrochen, schwindelig und übel ist ihr durchgehend. Etwas besser ist es, wenn sie sich nicht bewegt und die Augen geschlossen hält. Egal was sie macht, ganz weg geht der Schwindel nicht.
Zuerst hat sie zuhause noch eine Weile gewartet, ob es von selbst besser wird. Als dies aber nicht der Fall war, hat sie ihren Mann den Rettungsdienst rufen lassen, welcher sie dann in die Notaufnahme brachte. Dem Rettungsdienst ist ein Nystagmus aufgefallen. Der Blutdruck war erhöht mit 180/95, der Puls tachykard mit 120/min. Sauerstoffsättigung, Blutzucker und Temperatur waren normwertig. Veränderungen mit dem Hören (Hörminderung oder Tinnitus) hat sie nicht bemerkt. Weitere Beschwerden wie Kopfschmerzen, Seh- oder Sprachstörungen, Lähmungserscheinungen oder Gefühlsstörungen werden von der Patientin verneint. Nach Vorerkrankungen befragt, berichtet die Patientin von einer Hypothyreose, weshalb sie 100 µg L-Thyroxin einnimmt. Ansonsten ist sie gesund, voll berufstätig und hatte bisher noch nie ähnliche Beschwerden.
In der neurologischen Untersuchung zeigt sich ein Spontannystagmus mit schneller Schlagrichtung nach links, welcher beim Blick nach links verstärkt zum Vorschein kommt. Beim Blick nach rechts wird der Nystagmus schwächer, ist aber weiter vorhanden. Der Kopf-Impuls-Test zeigt eine deutliche Rückstellsakkade bei Kopfdrehung nach rechts. Aufstehen kann die Patientin nur mit Hilfe, sie kann wenige kleine Schritte mit Unterstützung gehen und hat dabei das Gefühl, dass es sie nach rechts zieht. Die weitere neurologische Untersuchung ist unauffällig, insbesondere zeigt sich keine Blickparese und keine Skew-Deviation, auch der Finger-Nase-Versuch ist beidseits unauffällig, Paresen oder Sensibilitätsstörungen bestehen nicht.
Es wird die Verdachtsdiagnose eines rechtsseitigen Vestibularorgan-Ausfalls (Neuritis vestibularis) gestellt. Ein CT des Schädels wird durchgeführt, ohne dass sich hier Auffälligkeiten ergeben. Die Patientin wird mit oralem Prednisolon behandelt, welches über 14 Tage ausgeschlichen wird. Sie wird aufgrund der starken Beeinträchtigung durch den Schwindel für eine Nacht stationär aufgenommen. Am Folgetag besteht der Schwindel weiterhin, sie kann aber mittlerweile ohne Hilfe zur Toilette gehen und traut sich die Entlassung nach Hause zu.
Der Fallbericht zeigt typische Symptomatik und Verlauf des einseitigen Vestibularorgan-Ausfalls. Dieses Krankheitsbild wird auch oft als Neuritis vestibularis bezeichnet. Da dieser Name aber eine entzündliche Ursache der Krankheit impliziert, welche zwar weiter vermutet aber noch nicht nachgewiesen ist, wird von Experten eher der neutralere Name eines einseitigen Vestibularorgan-Ausfalls bevorzugt. Die Erkrankung ist relativ häufig (jährliche Inzidenz bis zu 15/100.000) und führt zu einer starken Beeinträchtigung der Patienten.
Und nicht nur aus diesem Grund lohnt es sich, die Erkrankung gut zu kennen. Besonders die Beachtung und der Ausschluss von Differentialdiagnosen ist von hoher Relevanz, da ein Schlaganfall im Kleinhirn sich mit ganz ähnlichen Symptomen äußern kann. Und dabei helfen vor allem die sorgfältige Anamnese und klinisch-neurologische Untersuchung.
Die aktuelle AWMF-Leitlinie „Vestibuläre Funktionsstörungen“ empfiehlt hierfür den HINTS-Test. Das Akronym steht für Head Impulse Test, Nystagmus and Test of Skew Deviation. Durch den Kopf-Impuls-Test wird der vestibulo-okuläre Reflex überprüft. Der Untersucher hält den Kopf des Patienten mit beiden Händen fest und bittet den Patienten, die Nase des Untersuchers zu fixieren. Dann wir der Kopf des Patienten ruckartig zur Seite bewegt. Bei funktionierendem Reflex bleibt der Blick des Patienten auf der Nase des Untersuchers fixiert. Ist der Reflex beeinträchtigt, dreht sich der Bulbus zunächst mit dem Kopf mit, d. h. die Pupillen sind dann zur Seite der Kopfdrehung gerichtet, kurz darauf gelingt es dem Patienten wieder, den Untersucher zu fixieren, es kommt zu einer Rückstellsakkade. Ein unauffälliger Kopf-Impuls-Test spricht dabei für eine zentrale Genese.
Der Nystagmus beim einseitigen Vestibularorgan-Ausfall schlägt stets in die Richtung des gesunden Vestibularorgans. Kommt es beim Blick zur Gegenseite zu einem Wechsel der Schlagrichtung, spricht auch dies für eine zentrale Genese. Und schließlich kommt auch eine Skew-Deviation, d. h. das Abweichen eines Auges in der Vertikalen, nur bei einer zentralen Genese vor. Noch besser als der HINTS-Test ist der HINTS-plus-Test, der zusätzlich eine grobe Untersuchung der Hörfunktion beinhaltet. Hierfür werden die Finger des Untersuchers vor den beiden Ohren des Patienten gerieben, eine höhergradige Hörminderung auf einem Ohr kann so festgestellt werden. Diese kommt nicht beim Vestibularorgan-Ausfall, sondern bei einem Kleinhirninfarkt im Versorgungsgebiet der Arteria cerebelli anterior inferior (AICA) vor.
Hier gibt es ein Video von der University of Utah, in dem der HINTS-Tests am gesunden Probanden durchgeführt wird.
Ist der HINTS- oder sogar HINTS-plus-Test perfekt? Natürlich nicht. Er ist aber innerhalb der ersten 24 Stunden nach Symptombeginn sowohl sensitiver als auch spezifischer als ein MRT des Schädels. Man kann also mit einer einfachen klinischen Untersuchung eine genauere diagnostische Einordnung erreichen als mit einem modernen, aufwendigen und teuren MRT. Ein Schlaganfall, der sich vorrangig durch Schwindel äußert, ist in der Regel klein und im hinteren Bereich des Gehirns (Im Hirnstamm oder Kleinhirn) lokalisiert. Und genau bei solchen Schlaganfällen hat das MRT eine Schwäche. Diese erscheinen oft erst nach mehr als 24 Stunden als Diffusionsstörung im MRT – somit darf man in diesen Fällen der eigenen klinisch-neurologischen Untersuchung mehr trauen.
Wenn also Anamnese und Untersuchung perfekt zu einem einseitigen Vestibularorganausfall passen, kann man sich ziemlich sicher sein, keinen Schlaganfall übersehen zu haben. Sobald aber nur geringe Zweifel bestehen oder die Erfahrung mit den beschriebenen Untersuchungsschritten fehlt, sollte im Zweifel eine weitere Überwachung und Diagnostik erfolgen. Jeder Neurologe kennt wohl Geschichten, bei denen mit Sicherheit davon ausgegangen wurde, dass es sich um eine harmlose Neuritis vestibularis handelt und sich am Ende dann doch ein Schlaganfall als Ursache des Schwindels herausgestellt hat. Die Wahrheit kommt dann meist doch durch das MRT ans Licht und zwar wenn es nicht unmittelbar nach Symptombeginn, sondern im Abstand von 24 oder sogar 48 Stunden durchgeführt wird.
Quellen:
S2K-Leitlinie „Vestibuläre Funktionsstörungen“; Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e.V.; AWMF-Register-Nr. 017/078
Saber Tehrani AS et al. Diagnosing Stroke in Acute Dizziness and Vertigo: Pitfalls and Pearls. Stroke, 2018. doi: 10.1161/STROKEAHA.117.016979
Bildquelle: Mario Azzi, Unsplash