Lauterbachs leere Versprechen von weniger Bürokratie kontern Ärzte und Apotheken mit Protest. „Wir werden noch weiter gehen“, kündigt Dr. Dirk Heinrich, Vorsitzender des Virchowbundes, im Gespräch mit den DocCheck News an.
Anfang November sicherte ein Schreiben aus dem Bundesministerium für Gesundheit der Ärzteschaft zu, die bürokratischen Auswüchse des Gesundheitssystems endlich in den Griff zu kriegen. Darunter: Prüfungen von Maßnahmen in der Wirtschaftlichkeitsprüfung, Abschaffung einer Vielzahl von Vordrucken und Papieren oder die Digitalisierung vertragsärztlicher Überweisungen. Der Vorsitzende des Virchowbundes, Dr. Dirk Heinrich, erklärt, warum das nicht ausreicht und sich die Niedergelassenen damit nicht zufriedengeben (sollten).
Dr. Dirk Heinrich, Bundesvorsitzender des Virchowbundes (© Virchowbund / Lopata)
DocCheck: Die Situation der Ärzteschaft, speziell der Niedergelassenen ist – nach eigenen Aussagen – katastrophal. Entsprechend befinden Sie sich seit einiger Zeit in einer Streikphase, die in verschiedenen Aktionen gipfelt. Wo steht man aktuell und wie ist das Empfinden der Kollegen?
Dr. Dirk Heinrich: Die Situation ist auf unterschiedlichen Ebenen tatsächlich katastrophal. Entsprechend haben wir vor einigen Monaten angefangen, den Protest zu kanalisieren und zu organisieren. Die Protestaktionen haben uns große mediale Aufmerksamkeit gebracht – auch im Bundestag. Die Parteien haben die Anliegen nun wohl besser auf dem Schirm. Doch die Wut an der Basis ist auch deshalb so groß, weil im Gesundheitsministerium ein absichtliches Weghören stattfindet. Dass der Minister und seine Truppe jetzt noch durch die Lande ziehen und sagen „Och, wir wissen gar nicht, dass es den Ärzten systematisch schlecht geht“ – das ist schon ein bisschen Heuchelei. Wenn man den Hilferuf und Brandbrief der KBV dann als eine von vielen Postwurfsendungen abtut, ist das eine arrogante und provokante Unverschämtheit. Was die Kollegen inhaltlich besonders aufgebracht hatte, war die Streichung der Neupatientenregelung.
DocCheck: Was genau war hier Stein des Anstoßes?
Heinrich: Mit der Streichung war erstmals klar, dass gelogen wird, dass sich die Balken biegen, da das BMG seine Aussage, die Neupatientenregelung hätte nichts gebracht, nie mit Zahlen untermauern konnte. Es ging nur darum, Geld einzusparen. Offenkundig wurden dadurch einzig die grundversorgenden Ärztinnen und Ärzte belastet und getroffen. All diejenigen, die auf die Regelung nicht angewiesen waren, hatten finanziell nichts zu befürchten. Dazu kommt die Auferlegung von fünf zusätzlichen Sprechstunden – das wurde allgemein als unehrlich und unredlich empfunden. Von einigen Kolleginnen und Kollegen abgesehen, die besonders leidensfähig sind und sich geißeln lassen, ist der Rest einfach nur noch wütend.
DocCheck: Und so erklärt sich, dass Sie aktuell nicht gewillt sind, den Protest verstummen zu lassen?
Heinrich: Selbstverständlich – ganz im Gegenteil. Wir müssen uns als Ärzteschaft nun selbst Räume und Ausgleiche verschaffen, da die Politik dies vermissen lässt. Sicher werden wir auch weiter protestieren; die nächste deutschlandweite Maßnahme ist bereits für die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr geplant. Wenn die Praxen dann schließen, bedeutet das zehn Tage ohne reguläre ambulante Versorgung – so bauen wir politischen Druck auf. Daneben haben wir uns gestern im Virchowbund auch zu konkreten Maßnahmen der eigenen Existenzsicherung abgestimmt.
DocCheck: Sie sprechen Ihre gestrige Versammlung an, in der eben jene ärztliche Aktionen diskutiert wurden. Wie war das Ergebnis des Tages?
Heinrich: Erneut habe ich viele Geschichten aus dem Alltag gehört, die mich fassungslos zurückließen. Es sind auch Kleinigkeiten, die das Fass zum Überlaufen bringen – wie ein Kollege, der einen Fehler in seinem Heilberufeausweis hatte. Nach dem Hinweis an die Bundesdruckerei, verlangte diese nun einen erneuten Antrag. Wohlgemerkt, dass der Ausweis selbst 500 Euro kostet. Doch darüber hinaus haben wir Punkte diskutiert wie Leistungskürzungen, Verlängerung von Wartezeiten, Einführung einer 4-Tage-Woche, Ausweitung von Selbstzahlerleistungen oder die Rückgabe von Teilzulassungen. Wobei letzteres aber ja schon still und heimlich vollzogen wird. Etwa die Hälfte der ambulanten HNO-Operateure haben ihre entsprechenden Zulassungen zurückgegeben. Gleiches gilt für die Sonografie. Wenn ich als Niedergelassener nur noch knapp einen Appel und ein Ei für eine 20-minütige Sonografie erhalte, dann überweise ich doch lieber oder lasse den Patienten in die Privatsprechstunde zurückkommen. Und das hat nichts mit unethischem Verhalten, sondern mit Wirtschaftlichkeit zu tun.
DocCheck: Vergangene Woche hat das Bundesministerium in einem Impulspapier eine ganze Reihe Maßnahmen zur Entbürokratisierung angekündigt. Reicht Ihnen das, um die Streikwaffen einen Moment schweigen zu lassen?
Heinrich: Definitiv nicht. Nicht zuletzt deshalb, weil der grundlegende Punkt nicht ansatzweise vertreten ist. Ohne die Entbudgetierung ist alles Nichts. Diese ganzen Maßnahmen sind in Teilen vielleicht sinnvoll, aber wenn gleichzeitig an anderer Stelle noch größerer Diskussionsbedarf aufkommt, ist das alles Camouflage und wir stehen am Ende da, wo wir jetzt auch stehen. Es gibt eine klare Reihenfolge, was seitens der Politik durchgeführt werden muss: Zum einen eine allgemeine Entbudgetierung ärztlicher Leistungen. Zweitens: Eine umfassende Ambulantisierung mit einem Anteil von 80 Prozent der über DRGs abgeerechneten Fälle. Drittens müssen die digitalen Prozesse wie ePA und eRezept so aufgesetzt sein, dass sichergestellt ist, dass sie funktionieren und analoge Ausweichmöglichkeiten bestehen. Viertens gehört Patientenselbstbeteiligung eingeführt – in Form einer Praxis- oder Nutzungsgebühr, um das gesamte System zu entlasten und teilweise ein gesellschaftliches Umdenken zu etablieren, dass man nicht bei jeder Kleinigkeit zum Arzt muss. Das alles muss jetzt passieren – zumal die Regierung ohnehin nur noch ein halbes Jahr Zeit hat, um ihre Pläne auch durch die Mühlen der Bürokratie zu bringen.
DocCheck: Das klingt mehr nach systemischen Grundsatzfragen als nach aktuellen Aspekten wie Kostenausgleichen.
Heinrich: Da kommt beides zusammen. Die Budgetierung beispielsweise führt ja nicht nur dazu, dass nicht alle ärztlichen Leistungen abgedeckt und abgerechnet werden können. Sie ist auch als Steuerungselement ad absurdum geführt. Es kann niemand erklären, warum man als Facharzt in Hamburg für bestimmte Leistungen nur 65 % abrechnen kann und in Bayern für das Gleiche 96 %. Das gilt auch für die Gehälter – wenn keine Mittel bereitgestellt werden, um die Gehälter der medizinischen Fachangestellten aufzustocken, ist es schwierig, hier als attraktiver Arbeitgeber aufzutreten. Gleichzeitig bekommen Sozialversicherungsfachangestellte bei den Krankenkassen weitaus mehr. Das ist ein Skandal in diesem Land – diejenigen, die Verwaltung machen, werden besser bezahlt als die, die als Praktiker vor Ort sind. Gleiches gilt für die ärztliche Ausbildung. Mit Blick auf die Studiendauer werden wir ohnehin bereits durch ein 12-jähriges Tal des absoluten Ärztemangels schreiten.
DocCheck: Mit verschiedenen Maßnahmen wie der Etablierung von Community Health Nurses, massenhaft Gesundheitskiosken oder der Ausweitung von Vorsorgemaßnahmen in Apotheken will der Bund gegensteuern.
Heinrich: Das kann aus unserer Sicht aus mehreren Gründen nicht funktionieren. Die ärztliche Behandlungshoheit an allen Ecken und Enden aufzuweichen und Berufsbilder zu kreieren, die keine medizinische Ausbildung genossen haben, wird keiner Seite helfen. Oder wenn Sie sich ansehen, dass die Zahl der Apotheken gegenüber den Praxen der Niedergelassenen nur einen Bruchteil ausmacht, ist auch diese andere Idee kein sinnvoller Ansatz. Wenn die Apotheken nun auch Vorsorge machen sollen, entlastet das nicht, sondern generiert nur neue Patienten in den Praxen. Eine solche nicht gezielte und nicht abgesicherte Vorsorge führt letztlich nur zu weiterer Überversorgung, von der wir bereits mehr als genug haben. Dass durch die aktuelle Politik ganz klar und eindeutig eine Zweiklassenmedizin befördert wird, dagegen werden wir uns weiterhin wehren.
DocCheck: Nun sind und verbleiben Sie in einem Kampf um Ihre Branche und die Zukunft der Niedergelassenen. Was raten Sie einem jungen Arzt, der mit dem Gedanken spielt, eine Praxis zu eröffnen?
Heinrich: Als Ärztinnen und Ärzte werden wir immer Arbeit haben – mehr als genug. Ich würde der Kollegin oder dem Kollegen raten: So wie die politischen Voraussetzungen aktuell sind, bedarf es gründlicher Planung vorab. Man muss sorgfältig schauen, in welchem Bundesland man eine Praxis eröffnen möchte, wie die Versorgungslage vor Ort ist und auch wie die Versicherungssituation der Patienten vor Ort ist. Ich rate also zu einer gezielten Niederlassung und entsprechend intensiver Beratung im Vorfeld, wie sie zum Beispiel der Virchowbund leistet. Man muss schon genauer rechnen als früher, aber dann kann es sich wirtschaftlich und menschlich lohnen.
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