Bei seltenen Erkrankungen ist der Weg zur Diagnose und passenden Therapie oft beschwerlich. Ein Lotsensystem, bei dem ein Spezialist für psychische Gesundheit einbezogen wird, könnte das ändern. Lest hier, wies geht.
Weltweit sind schätzungsweise 300 Millionen Menschen von einer seltenen Erkrankungen betroffen. Aufgrund der unspezifischen Symptome und Auswirkungen auf mehrere Organsysteme gleicht der Weg bis zur Diagnose oft einer strapaziösen und frustrierenden Odyssee. Die Psyche leidet zusätzlich, bisweilen sind psychische Erkrankungen auch ursächlich für die komplexe Symptomatik, was wiederum Diagnose und Behandlung verzögert. Prof. Helge Hebestreit, Direktor des Zentrums für Seltene Erkrankungen (ZESE) am Uniklinikum Würzburg (UKW), hat nun zusammen mit einem interdisziplinären Expertenteam in der multizentrischen Kohortenstudie „ZSE-Duo“ gezeigt, dass die Einbeziehung eines Experten für psychische Gesundheit den gesamten diagnostischen Prozess verbessern kann.
Für die in EClinicalMedical publizierte Studie wurden an elf deutschen Zentren für seltene Erkrankungen jeweils knapp 700 überwiegend erwachsene Patienten, die sich mit einer unklaren Diagnose an die Einrichtung gewandt hatten, der Standardversorgung oder einer innovativen Versorgung zugeteilt. Die innovative Versorgung umfasste die kombinierte Betreuung durch einen Facharzt aus dem Bereich Psychiatrie oder Psychosomatik. Das heißt, der Experte für psychische Gesundheit wurde in sämtliche Aspekte der Diagnostik – von der Bewertung der Krankenakten über Klinikbesuche, telemedizinische Versorgung bis hin zu Fallkonferenzen – einbezogen.
Ergebnis: Der Anteil der Jugendlichen und Erwachsenen, bei denen innerhalb von zwölf Monaten nach dem ersten Besuch eine schlüssige Diagnose gestellt wurde, oder eine Kombination von Diagnosen, die das gesamte vorgestellte Symptomspektrum erklären, war beim innovativen dualen Ansatz mit 42 Prozent (286 von 686) mehr als doppelt so hoch im Vergleich zur Standardversorgung (19 Prozent, 131 von 672). Im Schnitt wurde in der innovativen Versorgung die Zeit bis zur Diagnose um einen Monat verkürzt und die Zahl der erfolgreich an die reguläre Versorgung überwiesenen Personen verdoppelte sich (von 12,3 Prozent in der Standard-Kohorte auf 27,5 Prozent in der innovativen Versorgung).
Die duale Betreuung hatte zwar keinen Einfluss auf die Lebensqualität, doch die Zufriedenheit der Patienten war hier deutlich höher als in der bislang üblichen Versorgung. „Das hat uns überrascht. Denn unsere große Sorge war, dass wir die Patientinnen und Patienten mit der zusätzlichen psychiatrisch-psychosomatischen Betreuung, die ja für die Betroffenen durch zusätzliche Termine einen Mehraufwand bedeutet, belasten. Doch die Patientinnen und Patienten in der dualen Betreuung waren zufriedener als diejenigen, die standardmäßig betreut wurden.“ Und es gab noch eine Sorge vor Studienbeginn, die nicht bestätigt wurde: Dass nun manche seltenen Erkrankungen übersehen und auf die psychische Schiene geschoben werden.
Tatsächlich wurde bei je 30 Prozent der untersuchten Personen im dualen Ansatz eine psychische Erkrankung diagnostiziert und eine seltene Erkrankung mit hoher Sicherheit ausgeschlossen. Doch Hebestreit betont, dass mit dem dualen Ansatz mindestens genauso viele seltene Erkrankungen gefunden wurden wie in der Standard-Betreuung.
„Unsere Patientinnen und Patienten haben in der Regel nicht die EINE Erkrankung, sondern ihr Leiden setzt sich aus mehreren Bausteinen zusammen, für die wir verschiedene Behandlungsansätze benötigen“, erklärt Hebestreit. Prof. Jürgen Deckert, Sprecher des Zentrums für psychische Gesundheit am UKW fügt hinzu: „Die komplexe Symptomatik von Personen, die sich zur diagnostischen Abklärung in ein Zentrum für seltene Erkrankungen begeben, umfasst häufig psychische Symptome bis hin zu psychischen Erkrankungen. Manchmal entwickeln sich die Symptome erst im Laufe der langwierigen Diagnostik, manchmal treten sie unabhängig von der seltenen Erkrankung auf oder ahmen diese sogar nach. Schließlich kann eine seltene Erkrankung als psychische Erkrankung fehldiagnostiziert werden. Umso wichtiger ist es, eine Expertin oder Experten für psychische Gesundheit frühzeitig in den interdisziplinären diagnostischen Prozess mit einzubeziehen.“
Die Ergebnisse der Studie seien den Autoren zufolge eindeutig und legen nahe, dass die Einbeziehung eines Spezialisten für psychische Gesundheit ein integraler Bestandteil der Beurteilung von Personen mit einer vermuteten seltenen Krankheit sein sollte.
Dieser Artikel basiert auf einer Pressemitteilung des Universitätsklinikums Würzburg. Die Studie haben wir euch hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: Getty Images, Unsplash