Ist KI ein Freund oder Feind? Diese Frage treibt viele Ärzte um. Wie genau KI euch in der Radiologie unterstützen kann oder ob ihr euch bald neue Jobs suchen müsst, erfahrt ihr hier.
Um das Thema künstliche Intelligenz (KI) kommt man heute als Arzt kaum noch herum. Gerade in der Radiologie ist es ein heiß diskutiertes Thema, prognostizierte das KI-Urgestein Geoffrey Hinton doch bereits 2016, dass menschliche Radiologen bald ausgestorben sein würden. Zitat: „Wir sollten jetzt aufhören, Radiologen auszubilden.“ Prof. Nils Große Hokamp, Oberarzt am Institut für Diagnostische und Interventionelle Radiologie an der Uniklinik Köln, kontert: „Das menschliche Gehirn ist effizienzmäßig immer noch eines der besten neuronalen Netze, die wir haben.“ Hokamp hat einen Überblick über die Rolle von KI in der DocCheck-CME-Veranstaltung „KI in der Radiologie“ gegeben.
Hokamp beginnt, indem er „aus Sicht eines Arztes“ erklärt, was eine KI bzw. das Prinzip des Deep Learning ausmacht. Traditionelles Programmieren basiert darauf, dass man Eingabedaten und den Verarbeitungsweg vorgibt und dann das Ergebnis – die verarbeiteten Daten – herausbekommt. Der Verarbeitungsweg basiert auf klaren Anweisungen, meistens nach dem Muster „If x, then y, else z“. „Das System ist ganz simpel und gibt es seit den 70ern“, so Hokamp. Die Programmierung ist meist arbeitsintensiv und die Datenverarbeitung vergleichsweise wenig komplex.
Beim Deep Learning hingegen werden sowohl die Eingabedaten als auch das Ergebnis vorgegeben. Das sind die sogenannten Trainingsdaten. Ein Beispiel für Eingabedaten sind MRT-Scans von Gehirnen, bei denen das Ergebnis die Diagnose „metastiert“ oder „nicht metastiert“ ist. Der KI wird die Aufgabe gegeben, selbst zu lernen, wie man von den Eingabedaten zu dem Ergebnis kommt, also aus den Bildern die Diagnose stellt. Die Ausgabe ist der Verarbeitungsweg in Form eines Algorithmus. Diesen Algorithmus kann man dann nutzen, um neue Eingabedaten, also zum Beispiel neue Scans, von denen man das Ergebnis (die Diagnose) noch nicht kennt, auszuwerten. Solche Programme sind meist deutlich komplexer als die traditionellen. Auch ist die menschliche Arbeitszeit oft geringer, jedoch benötigt man Computer mit einer hohen Rechenleistung.
Als Arzt sieht man bei einer KI nur die Eingabeschicht (die eingefütterten Daten) und die Ausgabeschicht (das Ergebnis). Dazwischen befindet sich eine meist sehr komplexe verborgene Schicht („hidden layer“), in der die Daten mittels neuronaler Netze verarbeitet werden. Hokamp erklärt auch, warum sie neuronale Netze heißen: In diesen Netzen gibt es ganz viele Verbindungen, die an Knotenpunkten zusammenlaufen. Diese Knotenpunkte – die Neuronen – gewichten die erhaltenen Informationen und geben sie je nach Gewichtung an verschiedene andere Knotenpunkte weiter. Die komplexe Vernetzung der Knotenpunkte und die jeweiligen Gewichtungen sind für Menschen nur schwer nachzuvollziehen. Der Algorithmus wird zu einer Black Box.
Da es für einen Arzt also quasi unmöglich ist, die neuronalen Netze des Algorithmus zu verstehen und zu verändern, ist es wichtig, dass die eingefütterten Trainingsdaten korrekt und so objektiv wie möglich sind. Sonst kann es schnell zu einem ungewollten Bias kommen. „Neuronale Netze können rassistisch oder altersdiskriminierend sein“, berichtet Hokamp. Möchte man beispielsweise eine KI trainieren, Ovarialkarzinome zu erkennen und nutzt für die positiven Befunde nur Scans von Personen über 50 und für die negativen Befunde nur Personen unter 50, kann die KI schnell zu dem Schluss kommen, dass das Alter der entscheidende Faktor für das Vorhandensein des Karzinoms ist. „Deshalb müssen Trainingsdaten perfekt ausbalanciert sein“, so Hokamp.
Hokamp erzählt, dass man die „heißen Themen“, die im Zusammenhang mit KI in der Radiologie diskutiert werden, auf drei Bereiche unterteilen kann. Der erste Bereich beschäftigt sich mit der Qualität bzw. dem medizinischen Nutzen. Hokamp nennt Beispiele von Algorithmen, die darauf trainiert wurden, Knochenfrakturen oder Lungenrundherde zu erkennen. Die Kritik daran, so Hokamp: „Das kann auch jeder Radiologe finden. Die Frage ist also: Braucht man das?“ Hokamp gibt auf diese Frage keine eindeutige Antwort. Er gibt aber zu bedenken, dass die Auswertung durch eine KI oft sehr schnell geschieht, was den Diagnoseprozess beschleunigen könnte. Der Beitrag der KI wäre also nicht in Fähigkeiten, die der Radiologe nicht hat, sondern in seiner Geschwindigkeit.
Und eine KI punktet auch bei ihrer Schnelligkeit, auf Daten zuzugreifen und sie zusammenzustellen. Hokamp stellt das Prinzip des „Smart Dictionary“ vor, bei dem ein Algorithmus beispielsweise bei Scans von Lungenveränderungen Vorschläge macht, was die Diagnose sein könnte. Besonders für Ärzte in der Ausbildung könnte das interessant sein: „Wenn ich unsicher bin oder wenn ich Fragen habe, kann ich, anstatt in Bücher zu gucken, mich an KI-Lösungen wenden, die das Ganze auch hoffentlich beschleunigen.“
Trotzdem sollten KIs nicht überschätzt werden. Die meisten Algorithmen können nur eine spezifische Fragestellung beantworten, also eine bestimmte Diagnose stellen oder ausschließen. Wenn man also verschiedene Diagnosen ausschließen möchte, „müssen auch mal so 30 Algorithmen drüber laufen“, so Hokamp. „Am Ende ist die Frage, blättere ich mich durch 30 Seiten CT-Bilder oder 30 verschiedene Algorithmen?“ Auch hier sollte also wieder genau geschaut werden, ob eine KI wirklich eine Verbesserung bietet oder nur das kann, was Radiologen ohnehin schon können.
Damit ist Hokamp auch schon bei dem zweiten „heißen Thema“: Die technische Implementierung. Aktuell gibt es keine einheitliche Lösung, wie das Problem der vielen verschiedenen Algorithmen gelöst werden kann. Es gibt allerdings Ansätze, eine Art App-Store für Diagnose-Algorithmen zu bauen, sodass man alle Anwendungen auf einer Plattform findet und sich die benötigten zusammenstellen kann. Das kann aber auch schnell teuer werden, warnt Hokamp: „Wir reden da über Preise von 10.000 € bis in die niedrigen 100.000er und das oft als monatliche Abos.“
Eine solche Plattform würde online eingerichtet werden, was dann zu der nächsten großen Frage führt: Wo und wie werden die Daten gespeichert? Oft werden die Algorithmen und die vertraulichen, medizinischen Daten nur lokal („on-premise“) gespeichert, um sie vor unrechtmäßigen Zugriffen zu schützen. Eine Cloud-basierte Speicherung würde allerdings einige Vorteile bringen: Die Algorithmen könnten regelmäßig Updates bekommen und die Daten könnten an leistungsstarke Server gesendet werden, um dort verarbeitet zu werden. Das DSGVO-konform umzusetzen, ist laut Hokamp allerdings schwierig. Besonders, wenn Server genutzt werden, die in anderen Ländern stehen – selbst, wenn sie innerhalb der EU sind. Denn jedes Land hat seine eignen Datenschutzgesetze, die alle eingehalten werden müssen. Hokamp sagt: „Wir kämpfen mit Regularien und Datenschutzauflagen.“
Bei dem letzten „heißen Thema“ geht es um die Frage, was man mit der KI-Nutzung eigentlich bezwecken möchte: Möchte man bei der Diagnosestellung „billiger“ werden (Kosten-basierte Betrachtung) oder möchte man „besser“ werden (Nutzen-basierte Betrachtung)?
Kosten während des Diagnoseprozesses reduzieren kann eine KI vor allem dadurch, dass sie die Befundungszeit verkürzt und Informationen für einen Radiologen aufbereiten kann. Auch kann sie Normalbefunde herausfiltern, sodass sich der Facharzt nur noch mit den auffälligen Scans befassen muss. Ein großes Problem bei einer automatischen Diagnose durch KI ist allerdings die Frage der Haftung. Denn: „The computer won’t go to jail.“ Am Ende haftet der Arzt, deshalb sollte er auch die Enddiagnose stellen.
Möchte man den Nutzen der KI erhöhen, muss man vor allem bei dem Training des Algorithmus ansetzten. „Der Algorithmus ist nur so gut wie sein Training – das kann man gar nicht oft genug sagen“, so Hokamp. Einen Algorithmus ausführlich zu trainieren kostet zu Beginn Zeit und Geld, sorgt aber langfristig für eine bessere Leistung. Und besonders bei der Kombination von verschiedenen Informationen, wie verschiedenen MRT-Scans oder Scans und Anamnese-Berichten, gibt es schon jetzt Hinweise, dass eine gut trainierte KI besser werden kann als ein Arzt.
Schließlich spricht Hokamp noch das Thema der Kostenübernahme von KI-unterstützer Diagnose durch Krankenkassen an. „Das Thema dauert auch nicht lange“, sagt Hokamp, „denn Kostenübernahme auf radiologischer Seite gibt es nicht, für keinen der KI-Algorithmen.“ Es gibt als Patient lediglich die Möglichkeit, einzelne Leistungen als individuelle Gesundheitsleistung (IGeL) in Anspruch zu nehmen.
Bei der Diskussion um KI in der Medizin sollte aber auch die Patientenperspektive nicht vergessen werden, so Hokamp. Deshalb hat er gemeinsam mit weiteren Kollegen Fragebögen im Wartezimmer ausgelegt, um einen Eindruck von der Einstellung seiner Patienten zur Nutzung von KI für ihre Diagnose zu bekommen. Das Ergebnis: Der Großteil ist damit einverstanden, dass eine KI ihre Diagnose erstellt oder ihre Behandlung plant, allerdings nur, solange diese von einem Arzt überprüft wird. Sind Arzt und KI verschiedener Meinung, vertrauen die meisten Patienten weiterhin auf ihren Arzt. Hokamp zeigt dafür Verständnis: KI biete viel Potential, aber „100-prozentig würde ich mich auch nicht darauf verlassen.“
Die Notwendigkeit für menschliche Radiologen bleibt also auch zukünftig bestehen, sagt Hokamp. Er sieht die Rolle von KIs eher als „Fallstrick“, also als eine gute Ergänzung für Ärzte anstatt etwas, das Ärzte bald ersetzen wird. Diagnosen, die aktuell von zwei verschiedenen Ärzten gestellt werden, könnten in Zukunft von einem Arzt und einer KI erstellt werden. Das wäre „jetzt sofort denkbar“, sagt Hokamp und etwas, das beispielsweise in Großbritannien bereits gemacht werde. So würden sich Mensch und Maschine in ihren jeweiligen Stärken und Schwächen ergänzen. Eine KI könnte auch dabei helfen, das opportunistische Screening auszuweiten. Man kann Algorithmen über erfasste Scans laufen lassen, um Auffälligkeiten zu erfassen, die sich ein Arzt aus Zeitgründen nicht angeschaut hätte, weil das nicht die konkrete Fragestellung war.
Durch die Unterstützung der KI könnte Arbeitszeit von Ärzten frei werden, weil sie beispielsweise in ihrer Rolle als Zweit-Gutachter abgelöst werden. Hokamp warnt aber davor, dies als Anlass zu nehmen, Stellen abzubauen. Vielmehr sei die KI ein Mittel, um den akuten Ärztemangel in den Griff zu bekommen. „Wir kennen alle die Wartezeiten in der Radiologie“, sagt er. „Die Frage sollte also gar nicht sein: Brauchen wir weniger Personal? Sondern: Wie kriegen wir das Personal, das wir für die Radiologie brauchen?“
Bildquelle: DocCheck