Ab 2024 greift die gesetzliche Mindestfallzahl von 25 Frühgeborenen unter 1.250 Gramm. Kinder- und Geburtskliniken mit weniger Fällen pro Jahr dürfen diese dann nicht mehr versorgen. Bringt das mehr Sicherheit oder geht Expertise verloren?
Mindestmengen sind gesetzlich vorgeschriebene Mindestfallzahlen für besonders komplizierte Operationen oder Therapieabläufe. Der Hintergedanke ist, dass mehr Routine im Ablauf bessere Ergebnisse erzielt. In Kliniken, die Mindestmengen einhalten, kommt es seltener zu Komplikationen und Todesfällen als in jenen, die nur wenige Eingriffe pro Jahr durchführen. Das erscheint auf den ersten Blick plausibel und spiegelt Alltagserfahrungen wider. In Deutschland gibt es derzeit für sieben medizinische Leistungen Mindestmengen, darunter für Leber-, Nieren- und Stammzelltransplantationen oder komplexe Eingriffe an Pankreas und Ösophagus. Auch bei der Versorgung von Frühgeborenen, die ein Gewicht unter 1.250 g haben bzw. nach weniger als 29+0 SSW zur Welt kommen, erhöht der Gesetzgeber ab nächstem Jahr die Mindestfallzahl.
Seit 2010 galt eine Mindestmenge von 14 Fällen pro Jahr. Damals wollte der Gemeinsame Bundesausschuss eine höhere Mindestmenge von 30 Fällen durchsetzen. Daraufhin klagten mehrere Kliniken und bekamen vor dem Bundessozialgericht recht. Derzeit liegt die geforderte Mindestmenge übergangsweise bei 20 Fällen pro Jahr und soll nun auf 25 Fälle angehoben werden.
Kinderkliniken werden in vier Level eingeteilt und nur Level-1-Kliniken (Perinatalzentrum Level 1) dürfen, aufgrund ihrer Spezialisierung, sehr früh geborene Kinder versorgen. Im Vergleich zu einer Mindestmenge von 14 Fällen würden dann 37 Klinikstandorte von dieser Versorgung ausgeschlossen.
Laut einer Modellrechnung aus dem Jahr 2020 verbleiben bei einer Mindestmenge von 25 Fällen noch 131 Kliniken, die sehr kleine Frühchen primär behandeln dürfen. Nicht zu vergessen sind die daran angeschlossenen Geburtskliniken, die ohne entsprechende Kinderklinik mit Level-1-Versorgung keine Geburtshilfe in sehr frühen Schwangerschaftswochen mehr durchführen können. Modellrechnungen haben ergeben, dass die Fahrtzeit zum nächstgelegenen Krankenhaus, das die Mindestmenge erfüllt, durchschnittlich bei 24 Minuten läge und etwa 24 km betragen würde. Laut Prof. Christoph Bührer, Direktor der Neonatologie an der Charité in Berlin, gibt es bisher mehr als 160 Perinatalzentren mit Level 1, denen weniger als 50 Zentren mit Level 2 gegenüberstehen. Mit Einführung der neuen Mindestmenge würde sich dieses Verhältnis auf etwa 120 zu 90 verschieben.
Mehrere Studien haben nahegelegt, dass eine Erhöhung der Mindestmenge das Outcome von sehr kleinen Frühgeborenen verbessern würde. Die optimale Mindestmenge für die bestmögliche Versorgung liegt eher bei 50 bis 60 Fällen pro Jahr.
Bührer hat hierfür klare Worte: „Es gibt einen linearen Zusammenhang zwischen Mindestmenge und Überleben von Frühgeborenen unter 1.250 Gramm Geburtsgewicht, bis zu einer jährlichen Mindestzahl von etwa 60 solcher Frühgeborenen. Bei einer Mindestzahl von 60 würden bundesweit etwa 60 Kinder mehr überleben. Die jetzt angesetzte Zahl von 25 ist niedrig und als politischer Kompromiss anzusehen. […] In Schweden gibt es acht Perinatalzentren mit Level 1 und 28 Perinatalzentren mit Level 2. Dort liegt die Überlebensrate von Frühgeborenen unter 28 Schwangerschaftswochen bei 86,3 %, in Deutschland gegenwärtig nur bei 77,5 %.“ Von der Mindestmengenregelung seien nur etwa 1 % aller Geburten betroffen und nur bei einer kleinen Anzahl von Risikogeburten eine moderate Erhöhung der Wegzeiten zu verzeichnen. 1 % der Betroffenen hätte jedoch eine Gesamtfahrzeit von mehr als 75 Minuten.
Die Befürchtung, eine verlängerte Fahrstrecke könne zu ungeplanten Ereignissen führen, hat der Leiter der Neonatologie der Uniklinik Dresden, Prof. Mario Rüdiger, nicht: „Da die Mehrzahl (rund 90 %) der zu frühen Geburten nicht als Notfall auftreten, wird es zu keiner Gefährdung der Versorgung kommen.“
Die Zentralisierung der perinatalen Versorgung in wenige Kliniken würde automatisch zur Folge haben, dass dort mehr extreme Frühchen als die geforderte Mindestmenge versorgt würden. „Die bestmögliche Versorgung eines Frühchens ist wichtiger als die nächstmögliche“, bringt Prof. Holger Stepan, Leiter der Geburtsmedizin an der Uniklinik in Leipzig, die Sache auf den Punkt.
Letzteres könnte allerdings die Versorgungslage wieder verschlechtern, wie Prof. Dominique Singer, Leiter der Neonatologie im Uniklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), zu bedenken gib: „Wir haben bei uns am UKE durchschnittlich rund 90 Frühgeborene unter 1.500 Gramm pro Jahr. Daraus in Zukunft mal eben 115 oder so zu machen, weil eine kleinere Klinik im Umkreis schließen muss […], wäre in der Tat schwierig, weil wir die Frühchen dann vor allem wegen des momentanen Pflegepersonalmangels gar nicht mehr leitliniengerecht versorgen könnten. Hierzu gibt es eine jüngst erschienene Studie der Münchner Kollegen im Bundesgesundheitsblatt, in der deutlich wird, dass die Einhaltung aller Vorgaben dazu führt, dass die Versorgung der Bevölkerung nicht mehr gewährleistet ist und drohende Frühgeburten teilweise (widersinnigerweise!) in periphere Kliniken ausgelagert werden müssen.“ Außerdem sei es unrealistisch zu meinen, dass nach Schließung kleinerer Kliniken das dortige Pflegepersonal automatisch in die Ballungszentren zieht, um dort weiterzuarbeiten.
Kinderkliniken sind in der deutschen Krankenhauslandschaft vom wirtschaftlichen Aspekt her in keiner guten Position. Da viele Behandlungen nicht ausreichend refinanziert werden, nutzen viele Kinderkliniken die Frühgeborenenversorgung, um andere defizitären Bereiche quer zu finanzieren. „Wird jetzt durch die neue Mindestmengen-Regelung einem Teil der Kinderkliniken die Versorgung kleiner Frühgeborenen verwehrt, könnte es sein, dass einige Kinderkliniken wegen Unwirtschaftlichkeit geschlossen werden. […] Es wäre in diesem Zusammenhang wünschenswert, das DRG-System für die pädiatrische Therapien insgesamt zu überarbeiten“, meint Prof. Ulrich Thome, Leiter der Neonatologie der Uniklinik Leipzig.
Unter Verantwortlichen von Geburts- und Kinderkliniken, die in Zukunft knapp unter der geforderten Mindestmenge liegen würden, macht sich Unmut breit. Schwangere mit frühen Geburtsbestrebungen könnten nicht mehr heimatnah versorgt werden, was den Patientinnen und deren Familien zusätzlichen und für den Ausgang der Schwangerschaft nicht förderlichen Stress bereiten würde.
Die hohe medizinische Qualität in der Versorgung von Frühgeborenen ist transparent unter www.perinatalzentren.org einsehbar. Dort schneiden kleinere Perinatalzentren zum Teil besser ab als sehr große.
Geburtskliniken, die bisher sehr gut darin waren, Frühgeburten zu verhindern, werden mit der Anhebung der Mindestmenge ihre Expertise verlieren, da sie Patientinnen in sehr frühen Schwangerschaftswochen nicht mehr aufnehmen können. Kinderkliniken, die auch ohne Erreichen der Mindestmenge Extremfrühgeborene auf hohem Niveau versorgt haben, werden ihr Knowhow verlieren. Dagegen werden große geburtshilfliche und pädiatrische Zentren mit noch höherem Patientenaufkommen an ihr Limit geraten. Andererseits macht Zentralisierung, wie das Modell Schweden zeigt, durchaus Sinn.
Antworten werden weitere Studien und Statistiken bringen. Entscheidend ist die bestmögliche Versorgung von Mutter und Kind.
Bildquelle: Ioana Cristiana, Unsplash