Ich sitze auf dem Boden und versuche, Herrn Opitz das Leben zu retten. Alle Maßnahmen versagen, er erstickt vor meinen Augen – jetzt kann nur noch ein Luftröhrenschnitt helfen. Spoiler: Diesmal gibt’s kein Happy End.
Der Moment, in dem das Skalpell in die Haut eintaucht, ist besonders. Ich führe es wie einen Stift, damit ich nicht zu stark durch die Schichten gleite. Aber wann ist stark zu stark? Die Hautschicht ist sehr dünn an dieser Stelle und links und rechts verlaufen die Arterien und Venen der Schilddrüse, die ich nicht verletzen will. Das Zittern meiner Hand irritiert mich, aber ich bin tatsächlich nervös, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt schon einige Jahre im Rettungsdienst verbracht habe. Meine Kollegin Sara hat Kompressen und den fünfkommafünfer Endo-Tubus schon ausgepackt. Sie weiß genauso wenig wie ich, wie man einen chirurgischen Atemweg im Wohnzimmer eines Einfamilienhauses auf dem Teppichboden etabliert. Aber dieser Mann braucht einen – sonst wird dieser Tag noch schlechter für ihn ausgehen, als er es eh schon tut.
Ich setze das Skalpell an, fühle das lieblose Plastik des Griffes in meiner Hand, aber irgendetwas hält mich zurück. Ein Kloß bildet sich in meinem Hals, meine Handflächen sind schweißnass. Es ist, als hinderte mich eine unsichtbare Kraft daran, den entscheidenden Schnitt zu setzen. Ich zwinge mich, einen Moment innezuhalten, tief durchzuatmen und die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Das Desinfektionsmittel rinnt links und rechts am Hals des Patienten hinunter und verdunstet. Und die Lippen des Mannes sind so blau wie tiefstes Meer, in dem ein Taucher nach Luft ringt.
Sara lehnt sich auf den Brustkorb des Mannes. „Die Frequenz ist zu weit unten. Ich muss anfangen.“ Sie drückt zu, ich höre zwei Rippen brechen. Die Augen des Mannes sehen ins Leere. „Kriegst du das hin?“, fragt sie in meine Richtung, aber ich sage nichts und schlucke. Welche Wahl habe ich denn schon? Klar könnte ich jetzt warten, bis der Notarzt zur Tür hereinspaziert, aber dann ist der Mann tot. Allein meine Vorstellung von Moral und Berufsethik lassen gar keinen anderen Schluss zu, alles zu tun – auch etwas, das ich noch nie in der Praxis durchgeführt habe.
Noch nicht mal am Simulator habe ich je die Koniotomie trainiert. Aber ich weiß, wie sie funktioniert. Wird das strafrechtlich später ein Problem? Ich weiß es nicht. Aber der Mann stirbt.
Was tun? Was jetzt? Was zuerst?
Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass der Sauerstoffmangel bereits zu einem Einbruch der Herzfrequenz geführt hat und wir den Mann reanimieren. Und dass wir keine Luft hineinbekommen.
Erst zehn Minuten zuvor trafen wir mit dem Rettungswagen bei dem 68-jährigen Gartenliebhaber ein, der seine Pergola vom Laub befreien wollte. Die Leitstelle hatte uns nichts weiter an Informationen übermittelt, und so nahmen wir alles an Material mit hinein. An der Klingel stand der Name „Manfred Opitz“, die Haustür lehnte nur an. Im Wohnzimmer fanden wir ihn. Es passierte während seiner Arbeit an der Pergola. Eine Biene stach zu, die er wohl unwissentlich in Bedrängnis gebracht hatte. Und jetzt hatten sich am ganzen Körper massiv rote Flecken gebildet. Die Farbe des Gesichts war von der Lippenfarbe nicht mehr zu unterscheiden. Erst als der Hals zuschwoll, rief er die 112.
Manfred Opitz’ Augen bohrten sich in meine, als schrien sie um Hilfe. Als der Mann nach Luft rang, klang es nur wie heiseres Keuchen. Seine Hände umklammerten meine Arme mit einer Stärke, als ob ich seine letzte Verbindung zum Leben wäre. Die Augen weit aufgerissen, der Kopf bewegte sich hin und her, der Mund zum Kreis geformt, als wollte er etwas sagen, aber es kam nichts mehr heraus. Die Lippen sahen aus wie zwei Wulste, die Ohren wie aufgeblasen, die Augen zugeschwollen. Die linke Hand griff zur Brust, die rechte Hand an den Hals. Die winzige Ursache der Atemnot lag tot neben der Wohnzimmertür – die Biene.
Was jetzt? Wir hatten es mit einem ausgewachsenen A-Problem zu tun, das zum sicheren Tod des Patienten führen wird, wenn wir nicht sofort tätig werden. Wir mussten etwas tun. Loslegen. Jetzt anfangen, dem Mann zu helfen, aber es vergingen einige Sekunden. Mir wurde klar, dass ich das Ersticken eines Menschen in der Realität so noch nie miterleben musste. Innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde gingen mir etliche Sachen durch den Kopf. Ich war verwundert darüber, über wie viel man in so kurzer Zeit nachdenken kann, unter anderem wo wir gerade sind und wie lange der Notarzt an die Einsatzstelle bräuchte. Er würde auf jeden Fall zu lange brauchen und wir waren zu weit weg vom nächstgelegenen Notarztstandort. Viel zu weit.
„RTW 1/83/1, bitte sprechen Sie.“ Der Leitstellendisponent wartete auf eine Reaktion. „Notarztnachforderung, dringend. Vitale Bedrohung!“, rief Sara in das Mikro und ließ das Funkgerät direkt neben sich einfach auf den Teppich fallen. Sie riss den Sauerstoffrucksack auf, zog eine Maske heraus und stülpte sie dem Patienten über das Gesicht. 15 Liter pro Minute, High-Flow. Es zischte, aber der Mann riss sich die Maske in Panik vom Gesicht. Er brauchte aber den Sauerstoff. Wie konnte ich ihn davon überzeugen, die Maske aufzubehalten? Keine Ahnung. Ich schob den Gedanken beiseite. Wir brauchten das Adrenalin.
Der Mann schlug in seiner Agonie um sich und brach irgendwann einfach zusammen. Sara hielt mir den Beutel samt Demandventil hin. „Hast du das Adrenalin?“, fragte ich, und schon hatte Sara ihm die Spritze in den Oberschenkel gejagt und abgedrückt. Die Sättigung war schon so niedrig, dass das Pulsoximeter keinen schlüssigen Wert mehr anbot. Der Mann auf dem Boden liegend, den Kopf zwischen meinen Beinen, so wie man das von den unzähligen Reanimationsfallbeispielen kennt, drückte ich ihm die Maske auf das Gesicht. Dann der Atemhub. Aber es tat sich nichts. Ich bekam keine Luft hinein.
Nochmal und nochmal – aber nichts bewegte sich, als hätte jemand die Luftzufuhr unterbrochen. Ich riss die Tasche mit dem Zubehör für die Larynxmaske aus dem Rucksack. Mit Gel versehen, in die linke Hand nehmen. Mit der rechten Hand den Ober- und Unterkiefer des Mannes auseinanderdrücken. Larynxmaske einführen, um 90 Grad drehen, damit ich die Zunge beiseiteschieben konnte. Aber es funktionierte nicht. Die Zunge war zu sehr angeschwollen. Ich bekam die Maske zwar hinein, aber die Beatmung funktionierte trotzdem nicht. Ich riss die Maske wieder heraus und griff mir das Intubationszubehör. Spatel und Griff klickten beim Zusammenstecken. Ich sah hinein, aber in der Tiefe des Mundes schwoll die Zunge vom unsichtbaren Gift der Biene vor sich hin. Ich konnte nicht mal den Gaumen sehen. Da war nichts, trotzdem schob ich den Tubus hinein – auf gut Glück. Aber ich kam nicht weiter, so als wäre ein unsichtbarer Widerstand im Weg. Alles unterhalb der Zunge war ebenfalls angeschwollen. Verdammt. Was nun? Vor meinem inneren Auge lief ein Countdown. Cannot intubate, cannot ventilate – ich musste schneiden.
Wenn wir unseren Job im Rettungsdienst ernst nehmen, trainieren wir alles Mögliche, um besser zu werden. Wir intubieren Kinder- und Erwachsenenphantome bis zum Erbrechen, absolvieren Fallbeispiele, in denen sich der Mime an die Brust greift oder sich einen Arm gebrochen hat, den wir analgesieren und schienen müssen. Oder es ist der tausendste Stromunfall mit anschließendem Reanimationsszenario mit zu beachtender Eigensicherung. Aber die Szenarien, in denen wir völlig blank sind und der Patient sicher nicht nur von unserem Zusehen profitiert, werden vernachlässigt oder sind nach Ansicht Verantwortlicher rein ärztliche Maßnahmen. Dazu gehören die Thoraxentlastungspunktion, die nicht-invasive Beatmung und eben auch die Koniotomie. Dabei ist die Koniotomie die letzte lebensrettende Maßnahme im Bereich eskalativen Atemwegsmanagements, die sitzen muss. Ansonsten erstickt der Patient vor unseren Augen und daran werden weder der Notarzt noch der für irgendwann geplante „Advanced Care Paramedic“ oder sonst wer etwas ändern. Es bleibt einzig und allein an denen hängen, die als Rettungswagenbesatzung zu einer vermeintlich unkritischen Situation gerufen werden.
Die Klinge des Skalpells gleitet sanft durch die oberste Hautschicht, die das Ligamentum conicum bedeckt. Blut läuft seitlich am Hals herunter und fängt sich in den Kompressen. Ich habe nicht tief genug geschnitten und setze nach. Jetzt die Wunde mit der Schere aufgespreizt und die Klinge quer angesetzt, irgendwo zwischen Schild- und Ringknorpel. Es blutet jetzt deutlich mehr als ich dachte und läuft seitlich ganz schön hinunter. Die Klingenspitze taucht in die faserige Struktur der Halsfaszie und irgendwann ist sie durch. Zack. Die Öffnung muss aber größer werden. Doch wie? Ich versuche zuerst, den Tubus einfach so durchzuschieben, aber es klappt nicht. In einem Trainingsvideo habe ich mal gesehen, dass der Chirurg das Skalpell einfach umgedreht und den Einschnitt mit dem Skalpellgriff vergrößert hat. Ich versuche es. Perfekt, jetzt mit drehenden Bewegungen die Öffnung vergrößern. Der Tubus passt durch, ich kann Manfred Opitz beatmen. Endlich. Erst zwanzig Minuten später marschiert die nachgeforderte Notarztbesatzung zur Tür hinein.
Ihr werdet euch jetzt vielleicht denken: Was für eine Heldengeschichte, alles hat bestens funktioniert. Die Herzfrequenz erholt sich, irgendwann ist auch der Kreislauf wieder da. Vielleicht wacht Manfred Opitz auch wieder auf und kann irgendwann seiner Gartenarbeit nachgehen. Aber nein, ich kann es vorwegnehmen: Es gibt kein Happy End.
Wir hatten zu lange weder Sauerstoff in Manfred Opitz hineinbekommen, noch hatten wir ihn überhaupt beatmen können, noch waren wir mit dem Adrenalin schnell genug. Er hatte nicht nur das Problem des fehlenden Sauerstoffes, sondern auch das des foudroyanten anaphylaktischen Schocks, den wir nicht durchbrechen konnten. Wir transportierten Manfred Opitz zunächst unter Reanimation in Richtung Klinik. Auf dem Weg bekam er unter massiver Katecholaminzufuhr sogar wieder einen eigenen Spontankreislauf. Aber es war zu spät. Der Sauerstoffmangel hatte einfach zu lang angehalten.
Was bleibt, ist erstens die Erkenntnis, derartige Szenarien im Rahmen eines ernsthaften Simulationstrainings bis zur Schmerzgrenze zu trainieren. Wenn man zögert und Scheu vor dem Schnitt in den Hals hat, wird dies lebensbedrohliche Konsequenzen für den Notfallpatienten nach sich ziehen. Es ist nicht nur die technische Kompetenz, die in solchen Momenten zählt, sondern auch die mentale Stärke mit der Fähigkeit, in ausweglosen Situationen klar zu denken und zu handeln. Auch dies kann durch mentales und wiederholtes Durchspielen einer derart ausweglosen Situation trainiert werden.
Zweitens benötigt man nicht nur Plan A, sondern auch einen Plan B und am besten einen Plan C. Die Eskalationsstufen müssen beherrscht und unter hohem Druck mit extremer Kaltschnäuzigkeit auch beschritten werden. Klappt die Beatmung nicht, müssen sofort Larynxmaske und dann der Tubus folgen. Bekommt man dann noch immer keinen Sauerstoff in den Patienten, muss unverzüglich der nächste Schritt eingeleitet werden – der Schnitt in den Hals. Denn ein Mensch stirbt nicht, weil er nicht intubiert werden kann. Ein Mensch stirbt, weil man nicht aufhört, ihn intubieren zu wollen.
Bildquelle: erstellt mit Midjourney