Ich habe den Eindruck, man braucht für alles mittlerweile ein ärztliches Attest: für die Schule, fürs Studium und den Sportverein – muss das sein? Und warum bezahle ich das als Hausärztin am Ende oft selbst?
„Da soll einfach nochmal ein Arzt drauf schauen“ ist ein Satz, der sehr häufig fällt und bei dem ich mich manchmal frage, was da genau benötigt wird. Denn oft fällt er in Situationen, in denen medizinisch gar kein Arzt nötig ist.
Aktuell sehr beliebt: der (mehr oder weniger kurze) Vor-Urlaubs-Check. Der Patient hat z. B. seit 1 bis 2 Tagen Erkältungssymptome und möchte in 7 bis 10 Tagen in den Urlaub fahren – und deswegen „soll da nochmal ein Arzt drauf schauen“. Das Problem ist: Gerade bei Erkältungen kann ich nichts machen, um das früher zu beenden. Eine Erkältung dauert ohne Arzt 7 Tage und mit Arzt eine Woche. Und da viele dieser Patienten auch ohne Maske kommen, frag ich mich ohnehin immer, ob das Wartezimmer dann nicht noch gefährlicher ist. Ob sie sich da nicht erst recht einen Infekt holen, der sie im Urlaub einschränkt.
Es geht zum großen Teil darum, die Patienten zu beruhigen. Das mache ich auch – aber ab einer gewissen Patientenmasse (denn auch die Infektsaison meldet sich jetzt wieder zurück) fragt man sich schon manchmal, ob man seine Ressource „Arzt“ da nicht gerade verschwendet.
Auch bei vielen AUs sind wir primär zum Bezeugen da, dass der Patient seine Beschwerden überzeugend rübergebracht hat – denn ob ein Patient wirklich gestern Abend Fieber und Kopfschmerzen hat, kann ich ja überhaupt nicht überprüfen. Besonders beliebt: Schul-Entschuldigungen vom Arzt oder Kinderkrankengeldbescheinigungen. Ich kann sehr gut verstehen, dass die Kinderärzte solche Bescheinigungen nicht mehr ausstellen wollen und finde es sehr gut, dass Herr Lauterbach da die Regulierungen etwas lockern will. Denn die Anzahl an Schulbescheinigungen steigt immer weiter.
Nur wenige haben einen begründbaren Attestzwang, weil sie zu oft gefehlt haben. Aber am Tag vor den Ferien, am Tag nach den Ferien, an Brückentagen und an Klausurtagen wollen viele Schulen gern ein ärztliches Attest sehen. Und da die Eltern dann lieber auf Nummer sicher gehen wollen, sollen wir dann direkt bei jedem Infekt bezeugen, dass das Kind nicht zur Schule gehen konnte. Nein, diese Kinder brauchen keinen Arzt, sie brauchen im wahrsten Sinne des Wortes nur eine (schriftliche, quasi ärztlich beglaubigte) Entschuldigung.
Noch eine Art von Bescheinigung, die mir inzwischen echt auf die Nerven geht, sind Tauglichkeitsatteste. Gefühlt braucht jeder Schülerpraktikant für die Arbeit im Krankenhaus oder Kindergarten inzwischen ein Attest, dass er infektfrei und körperlich und geistig dazu in der Lage ist. Mal ernsthaft: Ein Schülerpraktikant darf im Krankenhaus eh nichts Scharfes in die Hand nehmen – warum muss ich da den Eltern erklären, dass das Krankenhaus einen Hepatitis-B-Titer sehen will, den die Eltern selbst bezahlen müssen? Und ganz oft sieht man, dass der Hepatitis-B-Titer nach den Impfungen als Baby nicht mehr messbar ist, man impft also wieder auf und testet dann nochmal, hat dann den Titer über 100 U/l.
Und wenn derjenige 2 Jahre später ein anderes Praktikum hat, reicht dieser alte Titer aber nicht, es muss ein neuer her. Wobei sogar die STIKO sagt, dass ein einmaliger Titer über 100 reicht. Die größte Albernheit hab ich von einer Studentin gehört, die über die Bundeswehr studierte: Sie musste zweimal einen Titer bestimmen lassen – vom Hochschularzt und vom Bundeswehrarzt – weil jeweils eins vor ihren Praktika/PJ-Tertialen nicht akzeptiert wurde, trotz ausreichendem Titer. Wie albern ist das bitte? Und wer bezahlt das?
Aber selbst wenn wir das Krankenhaus beiseite lassen, weil immer mal Unfälle passieren KÖNNTEN – inzwischen will nahezu jeder Kindergarten auch ein Attest, selbst für 1 bis 2 Wochen Schülerpraktikum. Da geht es vermutlich letztlich um das Masern-Schutzgesetz – aber auch jeder Kindergartenträger sollte in der Lage sein, ein Impfbuch zu lesen und dann zu sehen, ob derjenige noch eine Masernimpfung braucht oder ob zwei dokumentiert sind. Und da ich diese kompletten Atteste mit körperlicher Untersuchung ja auch in Rechnung stellen muss, hab ich dann die nächsten Diskussionen. Dabei sind wir mit ca. 20 Euro noch echt günstig.
Das erzählte mir eine Dame vom Sportverein: Auch Sportvereine (z. B. für Schwimmen) werden inzwischen angehalten, dass Leute, die regelmäßig an ihrem Training teilnehmen, jährlich (!) ein ärztliches Attest mitbringen, auf dem die Sportfähigkeit festgehalten ist. Als ob wir nichts Besseres zu tun hätten …
Mal abgesehen davon, dass mich diese kostenpflichtigen Atteste grundsätzlich vor eine ethische Entscheidung stellen: Denn nur gut situierte Familien geben locker regelmäßig Geld aus für solche Atteste – was machen denn die anderen? Aber kostenlos Atteste auszustellen, ist sogar berufsrechtlich schwierig. Wir versuchen, das dann in der Preisgestaltung zu berücksichtigen – aber letztlich heißt das, dass ich dann das Attest selbst bezahle. Denn die Arbeit der Untersuchung mache ich ja trotzdem.
Wobei ja eigentlich niemand ein ernst gemeintes Attest will – sondern nur „eben die Unterschrift, damit man weitermachen kann“. Ich hatte jetzt zweimal folgende Situation: Ein Patient kommt für ein Attest (z. B. für eine Pflege-Tätigkeit oder eine geplante Adoption). Ich schreibe ein ehrliches Attest. Zum Beispiel sollte ich in einem Fall bescheinigen, dass „keine ernsthaften Erkrankungen“ vorlagen – was aber bei einem Malignom in der Vorgeschichte schon schwierig ist. Ja, ich hatte keinen Anhalt für eine akute Erkrankung, aber je nach Malignom gibt es leider auch längere Zeit später noch Rezidive/Metastasen.
Als ich den Patienten darauf ansprach, wurde er richtig wütend und meinte, dass er seit Jahren für die Organisation arbeite, die aber von der Vorerkrankung nichts wisse, weil er das damals geheim gehalten habe und ich das unter keinen Umständen erwähnen dürfe. Aber lügen kann ich ja auch nicht. Ich hab nachher eine Formulierung gefunden, die ich unterschreiben konnte, aber so richtig wohl fühlte ich mich dabei nicht. Wobei ich dazu sagen muss, dass der Patient insofern natürlich recht hatte, dass er durch die Erkrankung in keiner Weise akut eingeschränkt war und es auch nicht zu erwarten war, dass das in absehbarer Zeit auftritt. Aber bei diesen allgemeinen Formulierungen hat letztlich der Arzt die Verantwortung.
Noch dreister fand ich eine andere Patientin: Ich hatte sie untersucht, konnte das Attest aber noch nicht ausdrucken, weil der Impfpass noch fehlte. Am nächsten Tag kam besagte Patientin zur Kollegin und ließ sich krank schreiben wegen massiver Wirbelsäulenbeschwerden „seit Wochen“ (was sie mir gegenüber am Vortag nicht erwähnt hatte und da sie recht neu war, wusste ich davon noch nichts). Als ich daraufhin meinte, dass ich ihr das Attest nicht geben könne, wurde mir dann erstmal erklärt, dass man dann ja auch keine Bezahlung erwarten könne – meine Leistung (das Attest) sei ja nicht erbracht worden. Nein, meine Leistung ist die Untersuchung und die Formulierung eines Attestes – nicht, dass das Attest das gewünschte Ergebnis hat. Worauf ich der Patientin nur noch gesagt habe, dass unter diesen Umständen das dauerhafte, vertrauensvolle Arzt-Patienten-Verhältnis nicht gegeben sei. Und ihr empfohlen habe, sich jemand anderen zu suchen.
Wobei mir viele Patienten sagen, dass ihr alter Hausarzt das immer so gemacht habe – da frage ich mich dann schon, ob ich zu genau bin oder ob das einfach nur erzählt wird, um mich unter Druck zu setzen. Wie auch immer, diese Attesteritis teutonica (diese Formulierung hab ich mal irgendwo gelesen und fand sie großartig) muss echt mal behandelt werden – denn sie ist vor allem mächtig krank.
Bildquelle: erstellt mit DALL-E