Alexanders Eltern sind besorgt, denn sein Kindergarten drängt auf eine Untersuchung. Auf mich wirkt er entwicklungsverzögert und hat Sprachdefizite. Doch bei der nächsten U-Untersuchung erwartet mich eine Überraschung.
Alexander kommt nächstes Jahr in die Schule. Dann ist er erst fünfeinhalb. Die Dame bei der Einschulungsuntersuchung sagte den Eltern vor zwei Wochen sogar schon: „Vielleicht überspringt er sogar die erste Klasse.“
Er war letzte Woche bei mir zur Vorsorgeuntersuchung U9, die Eltern hatten um einen frühen Termin gegeben, weil sie sehr besorgt waren um die Entwicklung von Alexander – allerdings sind sie das seit seiner Geburt. Aber welche Eltern sind das nicht, dachte ich mir, und wir fanden einen Termin.
Ich kenne die Familie seitdem der Junge auf der Welt ist und sah ihn zu allen Vorsorgen. Ein paar Erkältungen waren nach Beginn des Kindergartens dabei, Impfungen, das Übliche, nichts Besonderes. Die Besonderheiten begannen eigentlich erst mit der U7, also mit zwei Jahren. Hier ist die Sprachentwicklung immer ein großes Thema, so auch bei Alexander und seinen Eltern.
Die Eltern sind rumänische Migranten und lebten seit knapp zehn Jahren in Deutschland. Ihre Sprachkenntnisse sind gut, wir verstehen uns ausgezeichnet – anfangs noch auf Englisch, da mein Rumänisch sehr mager ist, aber mittlerweile sprechen die Eltern nur noch Deutsch.
Wie allen Eltern empfahl ich auch Alexanders Eltern bei der U7, mit ihrem Sohn ausschließlich die eigene Muttersprache zu sprechen. Und ausschließlich bedeutet: Ausschließlich. Alexander war eher sprachfaul zu dieser Zeit, die Eltern gaben an, dass er mit zwei Jahren nur wenige praktische Worte in rumänischer Sprache beherrsche, er verstehe aber alles. Wir vereinbarten eine Kontrolluntersuchung nach zwei bis drei Monaten, bei der wieder ein paar Worte hinzugekommen waren – er bildete nun auch kleine Sätze, wie „Mama, essen“ oder „Papa – hier – spielen“, natürlich auf Rumänisch. Im Rahmen dieser Sprachentwicklungsberatung thematisieren wir immer auch den Medienkonsum. Leider saß Alexander zu dieser Zeit bereits zwei Stunden am Tag am Tablet, wohl schaue er dort YouTube-Videos, „damit er endlich mal Deutsch lernt“, so der Wunsch der Eltern. Ein paar Worte waren schon angekommen.
Er trug zu der Zeit noch Windeln – und die Mutter trug ihn auf den Armen in die Praxis und aus der Praxis. Sie zog ihn komplett an und aus und versorgte ihn mit einem Schnuller, wenn er – wie viele Kinder bei der U7 – etwas mürrisch auf mich reagierte.
Zeitsprung: Die U7a stand an, Alexander war jetzt drei Jahre alt. Mittlerweile besuchte er seit ein paar Wochen die Kita in der Nachbarschaft. Er sprach noch immer nicht gut Deutsch. Wie sollte er auch? Es waren erst ein paar Wochen mit direktem Deutschkontakt. Ich zeigte ihm den Sprachbogen, wie so oft beim Zweispracherwerb benannte er seltene Wörter (wie Schmetterling, Roller oder Puppe) gar nicht oder nur mit schwerem rumänischen Akzent, Alltagswörter wie Schuh, Hose oder Pullover alleine auf rumänisch. Dazu wurde viel geschummelt durch die Mutter, die ihm Wörter auch vorsagte. Sie erklärte mir, dass er in ihrer Muttersprache alles verstehe und auch zuhause sehr gut kommuniziere.
Er schnullerte noch immer, angeblich nur nachts. Beim Gehen kramte er den Schnuller aber aus Mamas Tasche hervor. Windeln trug er ebenfalls weiterhin. Und auch angezogen wurde er noch komplett. Zwischen der Drei- und Vierjahresuntersuchung meldete sich die Mutter erneut, der Kindergarten drängte sehr zu logopädischer Unterstützung, eine eigene Sprachförderung (wie in Baden-Württemberg für Kinder mit Migrationshintergrund gewünscht und finanziert – aber selten angeboten) gab es aus Personalgründen nicht. Wir terminierten die U8 etwas früher.
Diese Untersuchung verlief sehr interessant. Ich notierte mir später „Echolalien“ und „Manierismen“. Alexander nestelte ununterbrochen an einem roten Bindfaden herum, den er zusammen- und wieder auseinanderrollte, bei den Motoriktests machte er interessante Balancebewegungen mit den Händen. Das Monopedalhüpfen brachte er nicht zustande („das haben wir noch nie gemacht“), aus den Klötzchen auf dem Tisch baute er nur einen Turm, keine komplexeren Formen, eine Stifthaltung war nicht vorhanden („das lernt er noch in der Schule“). Dafür konnte er bereits Fahrrad fahren, das hatte er bei seinem Nachbarn in der Hofeinfahrt gefunden.
Die Figuren aus „Paw Patrol“ auf dem Plakat neben der Tür benannte er fehlerfrei. Die „Avenger-Symbole“, die ich auf seinem T-Shirt ausmachte, konnte er auch allen Charakteren zuordnen. Wir thematisierten erneut den Medienkonsum, der unverändert bei zwei bis drei Stunden am Tag lag, wie die Mutter zugibt. Er kann sich weiterhin nicht alleine anziehen, das übernahmen hier Mutter und Vater gemeinsam.
Seine Sprache im Deutschen war zu diesem Zeitpunkt nicht altersentsprechend, der Wortschatz gut, allerdings haperte es natürlich an Grammatik und der Aussprache. Ich dachte an eine logopädische Therapie, wohlwissend, dass gerade Alexander einen Grenzfall darstellt. Er hatte nie Probleme in der Elternsprache, jedoch würde der schwere Akzent ihm in der Schule Probleme bereiten.
Da auch sein motorisches und soziales Verhalten nicht dem eines Vierjährigen entsprach, vermittelte ich der Familie einen Termin bei der Frühförderstelle. Auf mich machte Alexander einen deprivierten Eindruck. Er war mir gegenüber distanzlos, auf die Eltern reagierte er im Untersuchungszimmer sehr ambivalent. Der Kindergarten drängte auf Abklärung einer Neurodivergenz (nicht deren Beschreibung) aus dem autistischen Formenkreis.
Ich lege Alexander wieder den Sprachbogen vor, er schiebt immer wieder meinen Finger beiseite, weil er die Bilder nicht benennen will, sondern weil er die Wörter, die darüber stehen, bereits lesen kann. Die Eltern berichten, er könne das Alphabet auswendig und lese ihnen die Bilderbücher fehlerfrei vor – auf Deutsch.
Sein Akzent ist weiter sehr ausgeprägt, aber die Grammatik fehlerfrei (abgesehen von der chronisch falschen Deklination, die hier in der Gegend nicht üblich sind). Er spreche außerdem ein wenig Englisch und im Rumänischen schreibe er bereits die ersten Worte, und zwar nicht nur „Mama“, „Papa“ und den eigenen Namen. Inzwischen fährt er Fahrrad, kann sich alleine anziehen – so schnell, dass ich das Abschlussgespräch kaum beendet habe und er schon seine Schuhe zugeschnürt hatte. Ja, zugeschnürt.
Die Pädagogen der Frühförderstelle hatten Alexander im Kindergarten beobachtet. Er spielte im offenen Konzept der Kita fünf Tage pro Woche in der Bauecke. Er stapelte Türme, erstellte Häuser und Skulpturen, baute sie wieder auseinander und begann von vorne. Dann wechselte er zu den Legosteinen und machte dort weiter. Am nächsten Tag fand er sich wieder in der Bauecke. Das änderte sich. Endlich muteten ihm die Erzieher auch andere Skills zu, auf die er zunächst keine Lust hatte, aber die er mit Inbrunst ausfüllte, je besser er sie beherrschte: Malen, Schreiben, mit anderen spielen. Niemand sprach mehr von Autismus.
Es gab Gespräche mit den Eltern. Sie wurden zu mehr Förderung der Selbständigkeit angeleitet. Seit zwei Monaten besucht Alexander den Bambini-Schwimmkurs und für das Frühjahr ist der Fußballverein geplant. Tablet und TV sind aus seinem Blickfeld verbannt, zur Belohnung darf er abends etwas ans Handy des Vaters und – logisch – „Paw Patrol“ auf YouTube anschauen. Das Lesen hat er sich selbst beigebracht, indem er die Buchstaben in den Bilderbüchern hinterfragte. Je mehr ihn die Eltern forderten, desto mehr entwickelte sich Alexander.
Wie man Kinder hin zu einer individuellen und damit optimalen Entwicklung fördern kann, ist umstritten, seitdem sich die Pädagogik mit frühkindlicher Förderung beschäftigt. Man kann Kinder „machen lassen“, sie werden ihre Welt schon entdecken. Aber Angebote müssen da sein, adäquat sein und auch einmal ihrer Zeit voraus. Fördern bedeutet in aller erster Linie Fordern, neue Herausforderungen zuzulassen und diese alleine zu meistern. Heute nennen wir das Nudging und Challenging.
Alle Erwachsenen, die Alexanders Leben kreuzten – mich eingeschlossen – haben die Unterforderung des Jungen nicht erkannt, der erst sein volles Potential entfaltete, nachdem ihm Dinge abgefordert wurden, die nicht dem Lehrbuch nach seinem Alter entsprachen. Die Eltern sahen in Alexander immer ein Kind, dass ein Jahr oder noch jünger war, nahmen ihm zu viele Dinge ab, er wurde gepampert und beschnullert und sprachlich nicht entwickelt. Er konnte sich nicht entfalten und entwickelte sogar vermeintliche Entwicklungsverzögerungen in Sprache und Verhalten – er wurde „diagnostiziert“.
So sehr wir bei den Entwicklungsgesprächen und Vorsorgeuntersuchungen immer nach Defiziten schauen und dadurch die Kinder naturgemäß von negativer Seite betrachten, sollten wir vielmehr ressourcen- und stärkenorientiert arbeiten und diese Fähigkeiten noch mehr aus ihnen herausholen.
Bildquelle: Max Goncharov, unsplash