65 Jahre alt und beim Herzsport umgekippt: So liegt Herr Brosig vor mir, unwürdig und grau im Gesicht. Seine Chancen stehen extrem schlecht, wir reanimieren trotzdem – und dieser Fall wird mich lehren, warum sich das immer lohnt.
Werde ich zu einer Reanimation alarmiert, fange ich automatisch an, zu rechnen: Wie lange dauert die Anfahrt? Reanimiert schon jemand und wie effektiv reanimiert derjenige? Wie lange ist das therapiefreie Intervall? Wie alt ist der Patient? In welche Umstände kommen wir als Team hinein? Und das Wichtigste: Hat derjenige unterm Strich eine Chance oder eher nicht?
So auch an diesem Montag, irgendwann in einem verregneten Juli. Einsatzort: eine Sporthalle, einige Ortschaften weiter. Jemand hatte die Rettungsleitstelle angerufen, weil ein Mann als Teilnehmer der koronaren Herzsportgruppe kollabiert sei. Ein Arzt sei vor Ort, dieser führe schon eine Herz-Lungen-Wiederbelebung durch. Knapp zwei Minuten nach Alarm waren meine Kollegin Nadine und ich auf dem Weg. Es ging durch den Berufsverkehr, mitten durch die gestressten Pendler, die nach links und rechts ausweichen mussten – die tickende Uhr therapiefreien Intervalls immer vor Augen. Nach 22 Minuten Überlandfahrt bremsten zuerst wir mit dem Rettungswagen am Sportgelände, dann direkt hinter uns das Notarzteinsatzfahrzeug. Leute standen herum und glotzten, eingefroren wie Eiswürfel. Im Hintergrund spielte alte Musik aus einem noch älteren Röhrenradio. „My Woman“ von Al Bowly und danach nur noch Sachen, die ich nicht kannte.
Wir betraten die Sporthalle und da lag der Patient umringt von entsetzten Teilnehmern. Der betreuende Arzt der Herzsportgruppe war der Einzige, der sich bewegte und im Takt auf dem Brustkorb des Mannes wippte. „Er heißt Thomas Brosig, 65 Jahre alt und ist direkt vor mir umgekippt. Ich habe bisher nur gedrückt, ohne Beatmung – er hat sich leider ziemlich erbrochen.“ Der Sportarzt hatte weder einen Defibrillator, noch einen Beatmungsbeutel, geschweige denn Sauerstoff dabei, weil er scheinbar nicht damit gerechnet hatte, dass tatsächlich doch mal etwas passieren könnte. Er schien geradezu erleichtert, als sich der Notarzt an den Kopf kniete.
Ich sah zu meiner Kollegin Nadine, die den Sportarzt ablöste und sofort mit der Herzdruckmassage begann. Das Material zügig um den Patienten platziert, fragte der alte, graubärtige Notarzt in die Runde, ob jemand mal den Absauger habe. Ich gab ihm das Gerät. Unter pulsierendem Schmatzen holte er ordentlich Erbrochenes aus der Lunge, damit der Sauerstoff überhaupt mal dort hineingelangen konnte, wo der Gasaustausch stattfand. Eine ältere Dame saß mit verzerrtem Gesicht auf der Bank. Möglicherweise kannte sie den Mann. Jemand kümmerte sich schon um sie und ich hörte Wortfragmente, die nach „das wird schon wieder“ klangen.
Ich sah zu Nadine und schüttelte so den Kopf, dass nur sie dies wahrnehmen konnte. Sie zog eine Augenbraue hoch. Wir schienen einer Meinung. Venöser Zugang rein, Adrenalin, Herzdruckmassage, Beatmung und wieder Adrenalin in stetigem Wechsel. Irgendwann sagte der Notarzt etwas von einer Rhythmusänderung. Kammerflimmern. Ich drückte die butterblumengelbe Laden-Taste und sah in die Runde: „Patienten nicht berühren, Achtung Schock in drei, zwei, eins …“ Der letzte Blick galt wie immer dem Patienten und dann folgte der Druck auf die rote Taste mit dem weißen Blitz. Ein Relais klackte, der Mann zuckte für den Bruchteil einer Sekunde und der Schock beförderte das Herz in die Nulllinie.
Wir alle – mich eingeschlossen – sprachen dem armen Mann nicht viele Chancen zu, weil schlichtweg niemand an einen Erfolg unter derartigen Bedingungen glaubte. Hier kommen die vielen Einsätze in Erinnerung, mit etlichen dieser Patienten in gleichem Setting, die würdelos und unrettbar entstellt mit halb geöffneten, statisch wirkenden Augen vor uns liegen. Auch Herr Brosig lag zu Beginn der Reanimation so da, mit eingedrücktem Brustkorb, grau-violettem Gesicht und einem Bröckchen-See an Erbrochenem im Hals, welcher mich entfernt an meine Kindheit und die übelriechende Pansensuppe meiner Uroma erinnerte, die sie mir immer vorsetzte.
Während ich nun den Thorax mit rhythmischen Bewegungen zum imaginären „Stayin’ alive“ eindrückte und in die leeren Augen einer längst seelenlosen Hülle blickte, errechnete mein Hirn auf Basis der vielen, gleich abgelaufenen Einsätze automatisch die auf der Einsatzfahrt errechnete Chance des Notfallpatienten. Für mich lag die Chance bei Null.
Ich dachte in diesem Augenblick daran, wie Herr Brosig nur noch durch unsere Maßnahmen am Leben gehalten wird und an tausend Schläuchen und Kabeln angeschlossen in seinem Dekubitusbett auf der Intensivstation vor sich hinstirbt, ohne je das Bewusstsein wiederzuerlangen. Warum also nicht gleich aufhören und denjenigen in Würde gehen lassen? Wieso den Angehörigen so etwas nicht ersparen? Dann verurteilte ich mich für meine Gedanken und dachte an das Individuum vor mir, mit einer langen Lebensgeschichte und Menschen um ihn herum, die ihn vermissen würden. Ich hatte kein Recht, darüber zu urteilen, welche Chance der Patient hat und ob die Angehörigen das nun so wollten oder nicht. Trotzdem fragte ich mich, was der Patient in diesem Moment gerne gewollt hätte.
Immer wieder geriet der Mann in ein Kammerflimmern, das sich schön defibrillieren ließ. Dann kurzzeitig Puls, gepaart mit einem hässlichen breiten Rhythmus. Der Blutdruck war zwar im Eimer, aber mit einem Perfusor voller Noradrenalin ging es. Wir mussten nur Luft in Herrn Brosig hineinbekommen, denn ohne Sauerstoff gibt es keinerlei Chance für das Gehirn. Kurz vor Erreichen des Krankenhauses schoss die letzte Defibrillation den Mann wieder in die Asystolie. „Das wars“, dachte ich und lud die Trage aus dem RTW. Nadine sprang auf die Trage und reanimierte, was das Zeug hielt, ich zog die beiden hinter mir her.
Im Ambulanzraum übergab der Notarzt den Patienten mit entschuldigenden Worten an das Reanimationsteam und den nicht gerade amüsierten Internisten. Auch der Notarzt hatte das klare Bild vor Augen, wie unser Team Herrn Brosig angesichts des fehlenden Sauerstoffs zu einem Apalliker heranzüchtete, der den Mitarbeitern in der Klinik Unmengen Arbeit machen, das System Unsummen kosten und am Ende des Tages doch irgendwann sterben wird. Dann verließen wir das Krankenhaus. Wir fuhren zum Desinfizieren und Auffüllen in die Wache zurück und hatten diesen Einsatz zum Feierabend abgehakt.
So weit, so gut. Aber einige Wochen später klingelte mein Telefon. Ich hob ab.
Herr am Telefon: „Hallo, mein Name ist Brosig. Thomas Brosig. Können Sie sich an mich erinnern?“Ich: „Wie bitte?“Herr am Telefon: „Na, Brosig ist mein Name. Ich bin der, den Sie vor drei Wochen in der Turnhalle wiederbelebt haben. Ihre Nummer habe ich von Ihrem Wachleiter. Der meinte, Sie freuen sich bestimmt über meinen Anruf.“
Herr am Telefon: „Hallo, mein Name ist Brosig. Thomas Brosig. Können Sie sich an mich erinnern?“
Ich: „Wie bitte?“
Herr am Telefon: „Na, Brosig ist mein Name. Ich bin der, den Sie vor drei Wochen in der Turnhalle wiederbelebt haben. Ihre Nummer habe ich von Ihrem Wachleiter. Der meinte, Sie freuen sich bestimmt über meinen Anruf.“
Ich fror.
In diesem Moment muss mein Gesicht ausgesehen haben, als hätte ich mit einem Geist telefoniert. Natürlich konnte ich mich an diesen Namen und somit auch an den Einsatz dazu erinnern. Und ja, für mich war Herr Brosig bis zu diesem Zeitpunkt auch ein Geist. Ich dachte, Thomas Brosig wird beim Betreten der Notaufnahme sofort für tot erklärt und wir transportieren ihn nur, um nicht mit einer Leiche im Rettungswagen irgendwo auf einer Landstraße herumzustehen und auf den Bestatter zu warten.
Niemals hätte ich bei dem Verlauf und den Umständen damit gerechnet, dass ich nun mit einem Patienten ohne erkennbares neurologisches Defizit sprechen kann, der über lange Zeit keinen Sauerstoff erhielt, dazu noch Erbrochenes aspirierte und kardial so vorgeschädigt war, dass die Liste seiner Vorerkrankungen und Medikamente einem Telefonbuch glich.
Herr Brosig berichtete darüber, dass er einen Komplettverschluss der rechten Koronararterie erlitten hatte, die man im Herzkatheterlabor aufmachen konnte. Seit seinem Erwachen auf der Intensivstation litt er an leichten Konzentrationsschwierigkeiten, humpelte etwas und werde schnell müde. Aber sonst sei alles gut. Und ich sollte bitte dem ganzen Team seinen herzlichen Dank ausrichten. Die Kontinuität der Herzdruckmassage hatte ein Leben gerettet.
Trotz all unserer Erfahrung wissen wir einfach zu wenig über den Patienten, der da nun bewusstlos vor uns liegt. Trat der Herzstillstand sofort ein? Hatte der Patient vielleicht noch eine lange Zeit eine VT mit gerade so viel Auswurf, dass das Hirn genügend Sauerstoff erhielt? Wie steht es mit Vorerkrankungen? Medikamenten? Und was will der Mensch überhaupt für sein Schicksal und sein weiteres Leben? Möchte er leben? Fakt ist: Hätten wir angesichts der aus unserer Sicht schlechten Prognose nicht angefangen, hätten wir Thomas Brosig um etliche Lebensjahre betrogen.
Bildquelle: Mathieu Stern, Unsplash