Unsere Aufgabe als Rettungsdienst ist es, Menschen in Not zu helfen. Doch oft stellen diese Menschen sich etwas anderes unter einem Notfall vor als wir. Wie Herr Ebersbach, der uns morgens um halb 5 aus der Fassung brachte.
Wenn der Alarmempfänger piept und uns von der Couch staubt, erwarte ich als Notfallsanitäter einen Menschen, der zeitnah Hilfe benötigt, weil es sonst zu einem nachhaltigen gesundheitlichen Schaden kommt. Zum Beispiel droht ein allergischer Schock, derjenige hat Brustschmerzen, eine Halbseitenlähmung, einen Knochenbruch oder meinetwegen Bauchschmerzen, die so stark sind, dass er es nicht mehr aushält. Dann kommen wir mit unserem Rettungswagen ins Spiel, der rollenden Intensivstation, in der man Schmerz bekämpfen, defibrillieren, intubieren und beatmen und auch mal ein Pflaster aufkleben und Wunden versorgen kann.
Dafür sind wir ausgebildet und auch das Notfallsanitätergesetz sagt, dass wir einige Sachen können müssen, um uns als Notfallsanitäter bezeichnen zu dürfen. Da wäre zum Beispiel die korrekte Einschätzung des Patientenzustandes, Anwendung von Medikamenten und Entscheidung, ob weitere notärztliche Hilfe an der Einsatzstelle notwendig ist.
Aber die Zeiten haben sich geändert. Um die Jahrtausendwende kam es zur Aufsplittung der Rettungsleitstellen in die KVB-Vermittlung und die ILS für Rettungsdienst- und Feuerwehrnotruf. Der Hilfesuchende musste plötzlich selbst entscheiden, ob er sich in einem lebensbedrohlichen Zustand befindet oder das Eintreffen eines Arztes noch einige Stunden warten kann. Wir wussten alle, dass dies in einen unverhältnismäßigen Anstieg an Einsätzen für den Rettungsdienst münden würde, was es auch tat.
Aber dann wurde es noch hässlicher, denn niemand hatte mit der völligen Unselbstständigkeit der Bevölkerung gerechnet: Da ruft der Bürger schon mal die 112, weil er gerne den Blutdruck gemessen haben, aber auf keinen Fall mit ins Krankenhaus fahren möchte. Der ärztliche Bereitschaftsdienst braucht zwei bis drei Stunden? Muss nicht sein, denn der Rettungswagen steht nach zehn Minuten vor der Tür und der Hilfesuchende muss das Taxi ins Krankenhaus nicht selbst zahlen. Bauchweh seit zwei Wochen und keinen Bock, sich am nächsten Tag in ein verkeimtes Wartezimmer zu setzen? Dann ist morgens um drei Uhr sicher ein guter Zeitpunkt, um dies in einer Notaufnahme abklären zu lassen. Der Angehörige fährt mit seinem Pkw hinterher, während der Transport mit dem Rettungswagen erfolgen muss. Die Krux: Dass man deshalb in der Notaufnahme bevorzugt behandelt wird, nur weil man mit einem Rettungswagen ankommt, ist reiner Aberglaube.
Das alles ist schon schlimm genug. Aber ich hätte die Geschichte nicht so begonnen, wenn es nicht noch jemanden gäbe, der dieser Krone noch immer eine weitere Krone aufsetzt. Nennen wir diesen Jemand in meinem Fall Dieter Ebersbach. Wir erhielten seinen Notruf morgens um halb fünf auf dem Weg zur Wache.
Der adipöse, grau melierte und schnauzbärtige Herr Ebersbach hatte es nicht immer leicht im Leben. Selbst frühberentet, verlor er seine Frau durch ein Medulloblastom. Als für ihn absehbar war, dass er sich bald nicht mehr ausreichend selbst versorgen konnte, beauftragte er einen örtlichen Pflegedienst, der auch eine Pflegebereitschaft anbot. Diesen hätte Herr Ebersbach in dieser Nacht gerne in Anspruch genommen, da ihm im Bett liegend ein mittelgroßes Malheur passiert ist. Am Apparat des Pflegedienstes nahm jedoch niemand ab. Nach einer Stunde wurde es ihm dann zu bunt. Er wählte die 112 und erwirkte unter einem Vorwand, dass ihm der Disponent einen Rettungswagen schickte. Wir kamen ins Spiel und betraten die Wohnung im ersten Stock der Altbausiedlung im Münchner Norden. Auf meine Frage, was denn passiert sei, sollte ich gefälligst meine Augen aufmachen. Herr Ebersbach habe sich eingekotet und vom Pflegedienst nehme niemand den scheiß Hörer ab. Und wir sollten ihn jetzt gefälligst saubermachen.
„Herr Ebersbach, der Rettungsdienst ist nicht dazu da, die Aufgaben der Pflege zu übernehmen“, erklärten wir ihm. Herr Ebersbach erwiderte nur, das sei schließlich auch ein Notfall. Sein Sohn sei Rechtsanwalt und verklage uns, wenn wir ihm nicht helfen. Wir hätten die Pflicht, hier Nothilfe zu leisten und ihn sauberzumachen. Was wir aber nicht taten.
Ich blieb bei meiner Aussage, der Rettungsdienst würde nur Menschen und keine Hintern retten. Dann fragte ich mich, wo denn der Sohn von Herrn Ebersbach sei, wenn dessen Vater mal Hilfe benötigte. Manche Menschen haben Kinder auch, um später im Alter nicht so allein zu sein. Dabei vergessen sie, dass diese Kinder irgendwann ihr eigenes Leben mit eigenen Verpflichtungen, Sorgen und Nöten haben. Für Herrn Ebersbach ergab die Rechnung um seinen Sohn unter dem Strich eine andere Summe als die, die das Leben für ihn bereitgehalten hatte. Dieter Ebersbach hatte sich verkalkuliert.
Er sagte einige Sekunden nichts. Dann nahm er seinen Hörer. Nach kurzem Tuten nahm jemand ab. Ich traute meinen Ohren nicht.
„Polizei-Notruf, guten Morgen.“
„Ja, hier Dieter Ebersbach. Ich habe Sanitäter gerufen, die mir aber nicht helfen wollen. Ich brauche jetzt einen Polizisten, damit mein Hintern wieder sauber wird.“
Dass die Polizistin in der Einsatzzentrale keinen Streifenwagen schickt, um einen Hintern zu putzen und den Mann neu zu bewindeln, war mir klar. Aber dass ihm die Polizistin sagte, dafür sei der Rettungsdienst zuständig, haute dem Fass den Boden aus. Ich teilte Herrn Ebersbach mit, er müsse sich leider bis zum Eintreffen des regulären Pflegedienstes in zwei Stunden gedulden und er könne sich ja dann bei diesem beschweren. Kurze Zeit später verließen wir die kafkaeske Szene unter großem Protest Herrn Ebersbachs, er werde sich über uns beschweren.
Diese Geschichte hört sich vielleicht lustig an, Herr Ebersbach jedoch tat mir trotz allem leid. Er gehört zu der Bevölkerungsschicht, die ganz allein und ohne jede Hilfe vor sich hinlebt und am Systemende hinunterfällt. Dass es keine Kompensationsmechanismen für die sich immer schneller ändernde Lage im Gesundheitswesen gibt, ist ein Problem, das uns mittlerweile über jede Grenze hinaus belastet. Wenn der Hausarzt oder der ärztliche Bereitschaftsdienst nicht erreichbar sind, wird immer auch bei Lappalien die nächstbeste Instanz angerufen. In diesem Fall sind das eben wir vom Rettungsdienst.
Bildquelle: erstellt mit Midjourney