Ich sitze hier, mit einem Glas Rotwein zu viel und denke an eine Bewohnerin, die in unserem Pflegeheim verstorben ist. Man sollte meinen, sowas gehört für mich zur Routine, aber in manchen Fällen reißt es mir noch heute den Boden unter den Füßen weg.
Vielleicht schreibe ich diesen Artikel in einer sehr emotionalen Verfassung. Eventuell habe ich auch schon etwas von dem Wein getrunken, den mir eine besondere Bewohnerin des Pflegeheimes, in dem ich arbeite, geschenkt hat – und die jetzt verstorben ist. Dabei denke ich an viele schöne und lustige Ereignisse zurück, die wir während unserer gemeinsamen Zeit dort hatten. Ich möchte hier mal einen Einblick geben, was Aussagen wie „Sie kennen sich damit bestimmt schon aus“ oder „Das ist sicherlich Routine für Sie“ mit mir machen. Sowas höre ich oft, wenn ein Bewohner verstirbt.
Nein, es ist keine Routine für mich. Auch nicht nach all der Zeit.
Gerade im Setting der Langzeitpflege sind Tode auch für das Personal schwer zu verkraften. Jeder der Mitarbeiter hat Geschichten und Situationen zu erzählen – manchmal herausfordernd, manchmal lustig und manchmal auch sehr lehrreich. Wir alle verbinden etwas mit unseren Bewohnern und genau deshalb arbeiten wir so gerne in diesem Bereich. Da fällt der Abschied genauso schwer wie bei z. B. einem langjährigen Freund – mal stärker, mal schwächer.
Sicher müssen wir bei einem Todesfall professionell handeln, da wir auch als Stütze für Angehörige oder Verwandte fungieren, vor allem beim reibungslosen Ablauf von allem, was nach dem Tod des Bewohners ansteht. Sei es die Verständigung mit dem Haus- oder Bereitschaftsarzt oder die Unterstützung beim Umgang mit Bestattungsinstituten – stets sind wir der erste Ansprechpartner. Trotzdem bleibt am Ende auch für uns der Verlust einer Person, mit der wir gerne zusammengearbeitet haben.
Die privaten Geschichten über prägende Ereignisse in der Vergangenheit – in diesem Fall zum Beispiel der Verlust eines Kindes durch einen Suizid ohne Abschiedsbrief, welcher der Bewohnerin eine starke Last zu Lebzeiten war oder der innigste Wunsch, im Falle der Pflegebedürftigkeit für niemanden eine Last zu sein – bleiben zurück. Vielleicht unterdrücke ich gerade auch die ein oder andere Träne, wenn ich daran denke, wie schön die Erlebnisse waren. Als ich zum Beispiel die Bewohnerin auf dem Balkon antraf und sie mir vom Garten in ihrem alten Haus erzählte, in dem sie Pflanzen aller Art hatte. Auch ihr Balkon bei uns war immer grün – das hatte sie sich als Hobby beibehalten. Nun ist sie nicht mehr da.
Bei Angehörigen behalten wir natürlich immer die Fassung. Wir sind professionell, weil man es von uns erwartet. Nur hinter diese Fassade, da blicken wenige. Und das ist auch gut so, denn auch uns nehmen solche Situationen mit. Wir sind in Vollzeit 40 Stunden pro Woche im Dienst, somit im Schnitt mehrmals am Tag bei jedem Bewohner. Wir sehen die Menschen auf der Arbeit häufiger als wir Freunde und Bekannte, in meinem Fall sogar Teile der Familie, sehen, weil diese weiter weg wohnen oder die Zeit für das Wiedersehen wegen Beruf und Verpflichtungen nur begrenzt da ist.
Wir lernen ihre Schwächen und Stärken kennen, ihre Vorlieben und Abneigungen, ihre Hoffnungen und Ängste. Ich selbst bin kein Fan des Bildes der „Herziherz-Pflege“, weil ich der Meinung bin, dass Professionalität und Fachlichkeit einen hohen Stellenwert in der Pflege einnehmen müssen, gerade – und vor allem – weil Medizin und Gesunderhaltung im Vordergrund stehen. Trotzdem sind es genau diese essenziellen Situationen, die uns reflektieren und nachdenken lassen. Der Grund, weshalb wir genau diesen und keinen anderen Beruf ausüben. Diese Erfahrungen, die uns über unsere Existenz und die Vergänglichkeit nachdenken lassen. Die schöne, aber auch traurige Geschichten zum Vorschein bringen.
Dabei bleibt natürlich zu sagen, dass es jeden unterschiedlich trifft, je nachdem, wie viel Bezug man zum Bewohner hatte. Gerade in meinem Fall ist dies eine Person, die sich sehr offen mir gegenüber gezeigt, die mir ihre Gedanken und Sorgen trotz oft nur kurzer Besuche offenbart hatte. Und da ich in ihren letzten Stunden als alleiniger Ansprechpartner für ihre Kinder, Enkel und Bekannten fungierte, trifft es mich nochmal stärker. Ich war direkt am Sterbeprozess beteiligt. Somit habe ich auch den Hinterbliebenen diese Geschichten erzählt, die ich mit ihrer Mutter oder Freundin erlebt habe, um das Leid, welches sie tragen, zu teilen. Auch da wird vielen Angehörigen erst klar, wie eingebunden wir in diesem System sind. Auf der einen Seite das professionelle Personal und die Retter in der Not, auf der anderen der Freund und Kummerkasten, wenn sonst niemand da ist.
Es tut mir leid für die Angehörigen und Freunde, die einen geliebten Menschen verlieren. Und genauso tut es mir für unsere Mitarbeiter leid, die viele schöne Geschichten und Situationen mit dieser Bewohnerin verbinden und ihre eigene Bindung aufbauen konnten. Pflege geht oftmals darüber hinaus, was wir als professionell und richtig erachten. Es ist ein Arbeiten mit Menschen und das setzt nicht nur den Umgang mit dem Leben und all seinen Facetten, sondern auch mit dem Tod voraus. Und da spreche ich, denke ich, für alle meine Kollegen: Das lässt keinen kalt.
Wir haben eine gewisse Routine im Umgang damit, trotzdem schließen wir Menschen in unsere Herzen. Wir richten unseren Arbeitsalltag nach ihnen und lieben oder missbilligen ihre Gewohnheiten. Aber, und das bleibt am Ende zurück, uns alle verbindet etwas miteinander. Mehr wohl, als mich der Arbeitsalltag als Verkäufer, Schlosser oder Busfahrer mit der Arbeit verbinden würde – der persönliche Kontakt mit dem Bewohner und das Einbinden in ihren und unseren Lebensalltag. Das Mitfiebern und -leiden durch die Gefühlswelt dieser einen Person, für die man zuständig ist.
Vielleicht wird der ein oder andere sagen, dass dies ein Zeichen von unprofessionellem Verhalten ist, dass man nicht in der Lage ist, mit solchen Situationen umzugehen. Oder aber, dass der Fehler darin liegt, alles zu sehr an sich herangelassen zu haben. Ich vertrete aber die Meinung, dass jeder seine eigene Art hat, solche existentiellen Erfahrungen zu verarbeiten. Einige weinen im Stillen, andere gedenken der Person. Ich persönlich schreibe bei melancholischer Musik und einem Glas Wein darüber. Ein Glas, welches besondere Gefühle hervorruft. Das ist wohl meine Coping-Strategie.
Solche existentiellen Erfahrungen würde ich wahrscheinlich in keinem anderen Beruf so intensiv wahrnehmen. Und wenn mir eine Angehörige im Sterbeprozess des Bewohners sagt, dass ich mit meiner Art genau im richtigen Beruf beheimatet bin, dann bestätigt es mich nur in meinem Handeln. Wir alle erleben Höhen und Tiefen. Nur der Umgang mit den Tiefen wird uns niemals richtig gelehrt – weil es kein Richtig und kein Falsch gibt. Da findet jeder im Laufe seines Berufslebens seine eigene Art und Weise, damit umzugehen. Manchmal alleine, hoffentlich aber mit jemandem, der das gleiche bereits durchgemacht hat. Aber egal, wie schwer der Abschied auch fällt, am Ende bleiben auch immer Erfahrungen und Lehren übrig. Jede Pflegeperson, die in Kontakt mit dem Tod getreten ist, ist schlussendlich bodenständiger und reflektierter in ihrem Handeln. Jeder verarbeitet den Tod und die Endlichkeit des Lebens auf seine eigene Art.
So bleibt mir hier nur eines zu sagen: Durch diese Situationen wird uns die Endlichkeit des Lebens immer wieder bewusst und das Ende kommt manchmal schneller als gedacht. Gerade wir, die in medizinischen und pflegerischen Berufen arbeiten, erleben es nur zu häufig, wie schnell und abrupt das Leben zu Ende sein kann. Daher, wenn euch beim nächsten Tod eines Bewohners oder Patienten alles sehr überwältigend vorkommen mag: Es ist okay, seine Gefühle zu zeigen und rauszulassen. Redet mit jemandem, dem ihr vertraut oder der euch nahesteht. Es ist für uns alle eine krasse und extreme Erfahrung und immer wieder aufs Neue ungewohnt – weit weg von Routine. Der Tod trifft uns immer wieder aufs Neue, ob alter Hase oder junger Hüpfer. Und es ist niemals gleich. Ein kleiner Trost bleibt aber dann doch immer: Das Ende einer Reise im Pflegeheim bedeutet auch immer den Beginn einer neuen Reise – mit einer neuen Person und neuen Geschichten.
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