Andere Länder, andere Sitten – und vielleicht auch ein anderes Verständnis von Psyche. Im Umgang mit Geflüchteten lassen sich auf dem Gebiet oft Unterschiede feststellen. Wie kulturgebunden ist die Psychoanalyse also?
Nicht jede Kultur kennt Psychotherapie als Hilfe für Menschen mit seelischen Problemen: Nicht-europäische Kulturen sind meist weniger auf ein individuelles Ich zentriert. Ist eine psychoanalytische Behandlung von traumatisierten Geflüchteten zum Beispiel aus Afghanistan oder Syrien dann möglich? Diese und andere Fragen diskutieren über 600 Psychoanalytiker auf der 74. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT). Letztlich ging es darum, was Psychotherapie zur Integration beitragen kann.
Seelische Schmerzen können auch körperlich zum Ausdruck gebracht werden: So fallen zum Beispiel afghanische Frauen häufiger in Ohnmacht oder werfen sich manchmal während einer Therapie zu Boden. Islamische Männer legen sich im Therapieraum von weiblichen Therapeutinnen oft nicht auf die Couch, weil das für sie Unterwerfung bedeutet. Symptome und Empfindungen von Menschen aus nicht-europäischen Kulturen finden häufig einen anderen Ausdruck. Wie kann dann Psychoanalyse, die ihre Wurzeln in Europa hat, mit traumatisierten Geflüchteten gelingen?
„Tatsächlich ist die Psychoanalyse eurozentriert“, sagt die Psychoanalytikerin Sieglinde Eva Tömmel, die seit der ersten Flüchtlingswelle 2015/16. afghanische Geflüchtete in der Nähe von München psychotherapeutisch behandelt. „Menschen aus Afghanistan haben kaum einen Begriff für eine individuelle Psyche. Sie verorten sich wesentlich in der Mitte der Familie“, so Tömmel. Auf der 74. Jahrestagung der DGPT unter dem Motto „Thinking under Fire“ spricht die Psychoanalytikerin über ihre Erfahrungen. Es geht um die Frage wie Denken und Analysieren unter extremen Bedingungen möglich ist?
Etwa 400.000 Menschen aus Afghanistan leben inzwischen in Deutschland. Damit steht Deutschland auf Platz drei der Aufnahmeländer, hinter Iran und Pakistan. In ihrem Heimatland waren etliche der Gewalt der Taliban ausgesetzt und auf der Flucht haben sie teilweise Schreckliches erlebt und Familienmitglieder verloren. Viele sind deshalb schwer traumatisiert. „Wer traumatisiert ist, kann zunächst nicht denken und nicht lernen – Voraussetzungen für eine Integration“, sagt Tömmel. „Je besser unsere Psychotherapien greifen, desto eher gelingt es den Zugewanderten, sich in unserer Gesellschaft zurechtzufinden.“
Doch Psychotherapeuten sollten sich mit der Kultur des jeweiligen Herkunftslandes beschäftigen, so Tömmel, „sonst wird kaum verständlich, was die Klientinnen und Klienten sagen oder wie sie sich verhalten“. Zudem müssten die Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker bereit sein, ihre Behandlungsmethoden anzupassen. Nach Tömmel kann die Arbeit mit Träumen zum Beispiel den Zugang zu analphabetischen Mitmenschen sehr erleichtern – sie sieht damit die Traumdeutung nach Sigmund Freud und deren moderne Weiterentwicklung durch die Hirnforschung erneut bestätigt.
Mit transkultureller Psychoanalyse beschäftigt sich auch die Schweizer Psychoanalytikerin Nasim Ghaffari, die auf der Jahrestagung über die feministische Revolutionsbewegung 2022/23 im Iran aus psychoanalytischer Sicht berichtet. Sie schlüsselt dabei die psychosozialen Aspekte der iranischen Diktatur auf, sodass ein psychodynamisches Verständnis für die gesellschaftlichen Ereignisse entstehen kann.
Dieser Text basiert auf einer Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie.
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