Ich habe vor Kurzem eine Praxis übernommen – seitdem arbeite ich mehr, das Privatleben bleibt auf der Strecke. Oft wird mir gesagt, ich solle mir einfach Hilfe für die Kinder holen. Aber was, wenn ich das gar nicht will?
Die Herbstzeit ist da und damit auch die Infektsaison. Die wird, wenn es auch nur halbwegs so bleibt wie die letzten Jahre, wieder sehr zeit- und kräftezehrend; mit vielen Patienten, kranken Angestellten, für die kurzfristig Ersatz organisiert werden muss oder man springt wieder mal selbst ein. Als Familie bedeutet es ebenfalls, dass man sich organisieren muss. Glücklicherweise sind meine Kinder jetzt so groß, dass es kein Drama ist, wenn sie mal eine Zeit allein bleiben müssen, aber mein Mann und ich sind natürlich oft mit Planung beschäftigt.
Ein Rat, den ich dazu schon x-mal gehört habe, ist: „Hol Dir doch eine Kinderfrau (und eine Reinigungskraft oder jemanden, der beides macht).“ Ich habe da schon mehrfach drüber nachgedacht, aber ich sehe das für mich nicht als Option und zwar aus verschiedenen Gründen.
Klar, die Zeit mit Kindern ist auch anstrengend. Aber andererseits ist es auch auf seine Art mal ein Ausgleich zum Gedankenkreisen um die Praxis, um (Palliativ-)Patienten, Ziffern, Abrechnung, Personalwesen und so weiter. Ganz ehrlich: Klar könnte ich locker 60–70 Stunden pro Woche für die Praxis verwenden. Und ja, gerade in den ersten Monaten der Selbständigkeit war das auch so, aber das soll kein Dauerzustand sein. Grundsätzlich arbeite ich sehr gern – ich halte meinen Job immer noch für einen der tollsten der Welt, wenn einen auch die äußeren Umstände schon mal mit den Zähnen knirschen lassen. Aber ja, für die seelische Gesundheit ist es wichtig, mal etwas mehr zu sehen, als nur Patientengeschichten und Ziffern.
Wenn ich mit meinem Sohn Harry Potter lese, ist das für mich ein geistiger Urlaub. Zu sehen, wie er mitfiebert, mit ihm über die Geschichte zu sprechen – das ist wunderschön. Klar, Kindererziehung ist auch Streit über Aufräumen, Hausaufgaben machen, Trösten bei den kleinen und großen Dramen des Alltags (zerbrechende Freundschaften, verpasster Bus, die Verabredung, die plötzlich platzt). Und das ist emotional echt anstrengend. Aber es ist auch Teil der Beziehung zu meinen Kindern. Ich möchte gern das Leben mit meinen Kindern teilen.
Ich habe immer noch meinen Chef im Ohr, der mir von sich selbst erzählt hat, als ich nach der Geburt meines zweiten Kindes überlegt hatte, für einen schnelleren Facharzt mehr Stunden zu machen. Er hat eine Tochter und er sagte immer, dass er lieber mehr Zeit mit ihr gehabt hätte – aber als sie klein war, hatte er die Praxis aufzubauen und als er damit fertig war und die Zeit da war, war sie aus dem Haus. Er bereut diese Entscheidung durchaus auch und der Facharzt rennt nicht weg. Im Gegenteil, es ist einfacher, als nachher als angestellter Facharzt noch die KV-Dienste obendrauf zu bekommen.
Und ja, ich erinnere mich auch an Situationen meiner Kindheit, wo ich gesehen habe, wie mein Vater uns eindeutig gezeigt hat, dass bei Notfällen (z. B. einem Verkehrsunfall meiner Schwester) die Praxis zurückstehen musste – die Familie kam zuerst. Das war für mich als Jugendliche schon wichtig: Mein Vater hatte viel Arbeit in der Praxis, aber wir wussten immer, dass bei aller Leidenschaft, mit der er Arzt war (und die er auch sicher an uns Kinder weitergegeben hat), letztlich wir für ihn noch wichtiger waren.
Um das direkt klarzumachen: Klar gibt es auch Kollegen, für die das Konzept Kinderfrau sehr gut funktioniert und die auch so gute Beziehungen zu ihren Kindern haben. Das soll jeder machen, wie er selbst möchte. Aber da einige Leute dann doch irritiert scheinen, dass ich meine Kinder nicht „wegorganisiere“, damit ich noch mehr Zeit für die Praxis habe, spüre ich einen gewissen Rechtfertigungsdrang.
Denn ja, die sozialen Beziehungen zu Familie und Freunden braucht man auch als Arzt, um den Akku wieder aufzuladen. Eine Freundin fragte mich mal, wie sie sich verhalten soll, wenn sie merkt, dass ich Stress habe. Sie hatte angeboten, sich dann eher zurückzunehmen, um nicht noch mehr (Zeit-)Druck zu erzeugen. Ich habe sie eher gebeten, mich trotzdem anzuschreiben, damit ich die Zeit mit meinen Freunden (und damit auch letztlich mich selbst) nicht aus den Augen verliere vor lauter Praxis.
Ich bin, wie viele Ärzte, glaube ich eher ein sogenannter Overachiever, was im Studium ja gefördert wird. Aber ich sehe auch, dass ich mir immer wieder bewusst Anker im realen Leben verschaffen muss, damit mein Beruf mich nicht auffrisst. Das war im Studium der Grund dafür, warum ich mit Kampfkunst angefangen habe. Wenn man körperlich angegriffen wird (auch im Training) zwingt man seine Gedanken ins Hier und Jetzt. Leider hatte ich die Kampfkunst in den letzten Jahren im Rahmen der Doppelbelastung Kinder und Familie zurückgestellt, aber als ich vor kurzem mal wieder die Gelegenheit zum Training hatte, wurde das für mich wieder sehr deutlich.
Deswegen finde ich die dauernde Diskussion über den Fachkräftemangel und die Teilzeit so schwierig: Unsere Gesellschaft wird älter und kränker, damit kommt es zu immer mehr Arztkontakten und samt Dokumentation hat sich die Arbeitsintensität doch stark gesteigert im Vergleich zu früher. Deswegen kann ich verstehen, dass nur wenige Kollegen wirklich Vollzeit in der Intensität arbeiten wollen (die Dienste kommen ja noch dazu).
Gerade die Hausarzt-Medizin ist sicherlich nicht immer planbar. Notfälle kommen vor und wirbeln alles durcheinander. Aber ich kann ein System nicht so aufstellen, dass es immer unter Volldampf fährt – denn dann fehlen die Reserven, wenn es wirklich mal Probleme gibt. Aber das ist im Sinne des heute vorherrschenden wirtschaftlichen Denkens schwierig, weil diese Reserve mitbezahlt werden müsste. Und ja, ich bleibe dabei, dass dafür die einzige Möglichkeit ist, dass wir gesellschaftlich mehr darauf achten, dass nicht mehr so viele Leute krank werden und gesundes Verhalten fördern – alles andere wird auf Dauer unfinanzierbar.
Denn sonst geht uns die wichtigste Ressource im Gesundheitssystem verloren: die Menschen, die dort arbeiten. Letztlich sind wir vor allem eines – Menschen. Und als Menschen brauchen wir mehrere Standbeine, auch neben Medizin und Praxis. Familie, Freunde, Hobbies, einfach Auszeiten. Es kann nicht sein, dass wir, die anderen helfen sollen, das mit unserer eigenen Gesundheit bezahlen. Und deswegen freue ich mich jetzt auf ein Wochenende mit meinen Kindern, ein paar guten Büchern, vielleicht einem Basketball und hoffentlich einfach mal ohne Praxis – denn das Palli-Telefon ist trotzdem immer dabei.
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