Nur 1,7 Patienten pro Stunde werden im Schnitt in deutschen Notaufnahmen behandelt. Diese Zahl findet man im kürzlich veröffentlichten Bericht des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung. „Ein völlig verzerrtes Bild“, kritisieren Notfallmediziner – zu Recht?
Das veröffentlichte Papier des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) zur Situation in den Kliniknotaufnahmen löst unter Fachleuten starken Widerspruch aus. „Das Papier bildet die Realität in den Notaufnahmen nicht ab“, kritisiert Professor André Gries, Ärztlicher Leiter der zentralen Notaufnahme am Uniklinikum Leipzig. „Dafür ist die verwendete Methodik völlig unzureichend“, warnt der Experte von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). „Notaufnahmen leisten unverzichtbare Arbeit zum Wohl der Patienten. Die Qualität geht regelmäßig über das hinaus, was die Notfallversorgung der niedergelassenen Ärzte leisten kann“, betont Professor Stefan Schwab, Präsident der DIVI.
In dem Papier behaupten die Zi-Autoren, dass in den Notaufnahmen an deutschen Krankenhäusern im Schnitt nur 1,7 Patienten pro Stunde behandelt würden – ein im internationalen Vergleich niedriger Wert. Sie werteten dafür allerdings nur jene Fälle aus, die die Krankenhäuser als ambulante Fälle bei den Kassenärztlichen Vereinigungen abgerechnet haben. „Eine wissenschaftlich belastbare Studie ist das nicht“, erklärt Gries. Patienten, die privat versichert oder Selbstzahler sind, fließen hier ebenso wenig ein wie jene, deren Notfallbehandlung die Berufsgenossenschaften tragen, beispielsweise nach einem Arbeitsunfall. „Außerdem kann ein Krankenhaus für jeden gesetzlich Versicherten nur einmal pro Quartal die Notfallpauschale abrechnen, selbst wenn er in dieser Zeit mehrfach die Notaufnahme aufsuchen muss“, erläutert der Experte. In dem Papier gar nicht berücksichtigt sind die behandelten und dann stationär aufgenommenen Fälle der Notaufnahme. „So entsteht in dem Zi-Papier ein völlig verzerrtes Bild von der Auslastung der Notaufnahmen.“
Die im Auftrag der Kassenärzte erstellte Auswertung zählt zudem nur die Neuaufnahmen. „Diese Betrachtung spiegelt jedoch nicht den Aufwand wider, den ein Patient benötigt“, so Gries. Viele Patienten müssen aufwendig diagnostiziert und behandelt werden und verlassen die Notaufnahme erst Stunden nach ihrer Aufnahme. „In unserer Notaufnahme zählen wir bis zu 9,5 Neuaufnahmen pro Stunde“, erläutert Gries, „zusammen mit den Patienten, die bereits da sind, bedeutet das, dass wir mitunter mehr als 30 teils schwer kranke Patienten parallel betreuen.“ Der Experte schlussfolgert: „Der Artikel verhöhnt das Personal in den Notaufnahmen, das oft am Limit arbeitet, um die vielen Patienten bestmöglich zu betreuen.“ Für viele Ärzte sei das Zi-Paper wie ein Schlag ins Gesicht.
Kritik übt der Fachmann auch an dem Vergleich mit der Situation in anderen Ländern. „Die Zahlen des Zi sind nicht mit Statistiken aus den USA oder Großbritannien vergleichbar“, so Gries. Dort existieren Register, die alle Patienten direkt bei der Ankunft in der Notaufnahme zählen, während sie in Deutschland nachträglich aus dafür nicht geschaffenen Abrechnungsstatistiken ermittelt würden. „Die DIVI fordert deshalb schon länger die verpflichtende Erfassung belastbarer Kennzahlen in den Notaufnahmen“, betont Gries. Hinzu komme, dass die Notfallversorgung in diesen Ländern anders strukturiert und organisiert sei als in Deutschland. So zählt die Notaufnahmestatistik in Großbritannien auch Besuche in sogenannten „walk-in centres“, Akutpraxen an Krankenhäusern, die kleinere Notfälle wie Insektenstiche, Heuschnupfen und Diarrhö versorgen.
In Deutschland hingegen werden die Notaufnahmen häufig auch in Anspruch genommen, weil die Notfallversorgung durch die Kassenärzte nicht ausreicht. „Wir wissen aus zahlreichen Studien, dass in den Notaufnahmen Patienten ambulant behandelt werden, die von niedergelassenen Kollegen zugewiesen werden, weil deren Abklärungsmöglichkeiten nicht ausreichen“, sagt Gries. Neben zahlreichen schwer kranken oder verletzten Patienten, die mit dem Rettungs- und Notarztdienst kommen, benötigen ungefähr 70 Prozent der ambulanten Patienten in einer Notaufnahme tatsächlich die apparative und diagnostische Ausstattung des Krankenhauses. „Wir sehen, dass die sogenannte ambulante Notfallversorgung durch die Kassenärzte nicht ausreichend sichergestellt wird. Außerhalb der Sprechstundenzeiten sind die Notdienste der Kassenärztlichen Vereinigungen nicht ausreichend. Und selbst innerhalb der Sprechstundenzeiten kommen zahlreiche Patienten ambulant in die Notaufnahmen.“
In ihrer Auswertung kommen die Zi-Autoren zu dem Schluss, dass die Mortalität bei Patienten, die in selten besuchten Notaufnahmen behandelt werden, höher ist als bei jenen, die in gut ausgelasteten Einrichtungen behandelt wurden. „Das ist aber schon lange bekannt“, betont Gries. „Deshalb arbeitet der Gemeinsame Bundesausschuss aktuell an einer Neustrukturierung der Krankenhauslandschaft.“ Diskutiert werden dabei auch Vorgaben für die Kliniknotfallversorgung, beispielsweise die Abstufung nach Krankenhäusern, die leichte, mittlere und schwere Notfälle versorgen können. Die Idee: die Etablierung eines zentralen Notfallzentrums pro Krankenhaus statt vieler Einzelnotaufnahmen. „Diesen Ansatz unterstützen wir Notfallmediziner“, sagt der DIVI-Fachmann.
Dabei müsse jedoch darauf geachtet werden, dass erfahrene Notfallmediziner solche Notfallzentren besetzen. In Deutschland werden häufig Ärzte aus anderen Abteilungen in die Notaufnahmen abgeordnet. „Das übersehen die Autoren des Zi-Papiers, wenn sie die Situation beispielsweise mit den USA vergleichen. Dort und in vielen anderen Ländern arbeiten in den Notaufnahmen Fachärzte für Notfallmedizin, in Deutschland ist eine entsprechende Zusatzqualifikation bisher nicht umfassend umgesetzt.“ Deswegen fordert die DIVI insbesondere für das Leitungspersonal der Notaufnahmen seit Jahren die bundesweite Einführung der Zusatzweiterbildung Klinische Akut- und Notfallmedizin. „Das Konzept steht, der Antrag liegt den Landesärztekammern vor, wir hoffen auf eine baldige Umsetzung“, so Gries. Der Text basiert auf einer Pressemitteilung der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin e. V.