Biotechnologen auf der Überholspur: Gelenkknorpel, Nasenflügel oder eine neue Vagina – Gewebekulturen machen es möglich. Forschern gelingt es sogar, im Bioreaktor Organe mit körpereigenen Zellen zu erschaffen. Steht der Einsatz in der klinischen Routine bevor?
Ein Fall aus der Praxis: Bisher hatten Patienten mit infiltrierenden, destruierend wachsenden Basaliomen schlechte Karten. Um den Tumor vollständig zu entfernen, müssen Chirurgen beispielsweise Teile des Nasenknorpels im Gesunden extrahieren. Zur Rekonstruktion entnehmen sie Transplantate aus der Nasenscheidewand, aus einem Ohr oder einer Rippe. Nicht immer können sie Komplikationen an der Entnahmestelle vermeiden. Die Lösung: Schweizer Forscher zeigen jetzt, welches Potenzial schon heute im Tissue Engineering steckt.
Professor Dr. Ivan Martin vom Departement Biomedizin der Universität und des Universitätsspitals Basel erprobte eine neue Technik in der Praxis. Er behandelte fünf Patienten zwischen 76 und 88 Jahren, deren Nasenflügel durch Tumorresektionen so stark in Mitleidenschaft gezogen wurden, dass eine Rekonstruktion notwendig erschien. Forscher isolierten Chondrozyten aus Biopsien und vermehrten diese via Zellkultur. Nach zwei Wochen stand ihnen die 40-fache Zellmasse zur Verfügung. Ivan Martin legte Knorpel auf Kollagenmembranen und ließ sie zwei Wochen lang anwachsen. Passgenau zugeschnitten, transplantierten Chirurgen das neue Gewebe. Nach Abschluss der Studie waren alle Empfänger sowohl mit ihrer Fähigkeit zur Nasenatmung als auch mit ihrem Erscheinungsbild zufrieden. Nennenswerte Komplikationen traten nicht auf. Jetzt hofft Martin, mit der neuen Methode auch größere Läsionen im Bereich von Ohr oder Nase zu schließen.
Chirurgen aus Mexiko und North Carolina standen vor anderen Herausforderungen. Ihre Patientinnen im Alter von 13 bis 18 Jahren litten am Mayer-von-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom. Aufgrund eines chromosomalen Defekts blieb eine Kanalisierung des Genitalstrangs während der Embryonalentwicklung aus. Betroffene leiden an Hypoplasien oder vollständigen Aplasien der Vagina und des Uterus. Bislang mussten Ärzte Rekonstruktionen umständlich mit Hauttransplantaten oder Darmschlingen durchführen. Studienleiterin Atlántida M. Raya-Rivera setzte jetzt Methoden des Tissue Engineering ein – mit Erfolg. Um eine Vagina aus Zellen der jeweiligen Patientin aufzubauen, entnahmen Ärzte Muskel- und Epithelzellen und verankerten diese auf Trägermaterialien. Eine Seite bestand aus Muskelzellen, auf der anderen Seite waren Epithelien zu finden. Nach der Vermehrung in vitro formten Chirurgen eine Röhre und implantierten das Konstrukt. Im Laufe der nächsten Monate bildete sich eine Vagina mit Muskeln, Schleimhaut, Nerven und Blutgefäßen. Nach sechs Monaten hatte sich der ursprüngliche Träger komplett aufgelöst. In den Folgejahren entstand eine funktionsfähige Vagina, was Raya-Rivera über den Female Sexual Function Index bestimmte.
Deutlich weiter sind Ansätze zur Behandlung von Patienten mit einer Meniskektomie gediehen. Nach Erfolgen im Tierversuch wollte C. Thomas Vangsness von der University of Southern California wissen, welchen klinischen Nutzen mesenchymale Stammzellen haben. Er nahm 55 Freiwillige, bei denen mindestens 50 Prozent des medialen Meniskus entfernt worden war, in eine randomisierte Doppelblindstudie auf. Vangsness spritzte innerhalb von sieben Tagen nach der partiellen Meniskektomie 50 oder 150 Millionen allogene Stammzellen in den Schleimbeutel. Die Lösung enthielt noch Elektrolyte, Hyaluronsäure und Albumin. Als Kontrolle kam gelöste Hyaluronsäure zum Einsatz. Trotz methodischer Schwächen beim quantitativen MRT gab es Anhaltspunkte, dass Stammzellen zu einem signifikant höheren Meniskusvolumen führen. Beim Follow-up nach zwei Jahren hatten Patienten der „Hochdosis-Gruppe“ zudem signifikant bessere Werte auf der Lysholm Knee Scoring Scale. Klinisch relevante Komplikationen traten nicht auf.
Für Orthopäden sind nicht nur Knorpel interessant. Wissenschaftlern des Max-Delbrück-Centrums für molekulare Medizin (MDC) und der Berliner Charité gelang jetzt ein entscheidender Durchbruch, um Muskelschäden zu reparieren. Bislang waren alle Versuche, Stammzellen einzusetzen, gescheitert. Dr. Andreas Marg und Professor Dr. Simone Spuler berichten von einem neuen Verfahren. Sie erhielten von freiwilligen Spendern zwischen 20 und 80 Jahren Gewebeproben ihrer Oberschenkelmuskeln. Spuler kultivierte Muskelfaserfragmente unter Sauerstoffentzug bei vier Grad Celsius. Unter diesen Bedingungen vermehrten sich nur die Satellitenzellen, sprich Muskelstammzellen, aber nicht die Bindegewebszellen. Anschließend transplantierte das Team Muskelfragmente in Schienbeinmuskeln von Mäusen – mit Erfolg: Es kam zur erwünschten Regeneration. Weitere Studien sind hier notwendig, um das klinische Potenzial auszuloten.