Die Präexpositionsprophylaxe (PrEP) bietet Schutz vor HIV-Infektionen. Seit der EU-Zulassung mussten Kunden mehrere hundert Euro monatlich dafür bezahlen. Eine Ausnahmeregelung ermöglichte Apothekern kurz darauf, das Medikament günstig anzubieten. Jetzt ziehen Pharmafirmen nach.
Im letzten Jahr haben sich europaweit 160.000 Menschen neu mit HIV infiziert, berichten die European Centre for Disease Control and Prevention. Zwar bleiben Regionen der ehemaligen Sowjetunion ein Brennpunkt. Deutschland geht aber auch nicht gerade mit Vorbildfunktion voran. Bundesweit ist die Zahl an Neuinfektionen in letzter Zeit kaum verändert. In 2016 kamen 3.100 neue Patienten hinzu. Erhobene Zeigefinger oder Hinweise auf Kondome haben bisher nicht viel bewirkt. Genau hier kommen Apotheker mit neuen Strategien ins Spiel. HIV-Selbsttests und Medikamente zur Präexpositionsprophylaxe (PrEP) könnten die Situation wesentlich verbessern.
HIV-Neuinfektionen in Europa (Europäische WHO-Region und EU/Europäischer Wirtschaftsraum [EU/EEA]) © ECDC Sich pharmakologisch zu schützen, war lange Zeit teuer. Wer es sich leisten konnte, schluckte vorbeugend die Virustatika Emtricitabin plus Tenofovir. Seit Oktober 2016 ist Truvada® als Fixkombination dafür zugelassen. Der Hersteller Gilead Sciences setzte den Preis mit 820 Euro pro Monat hoch an und hatte mit dem Präparat wirtschaftlich großen Erfolg. Umsatz von Gilead Sciences mit dem Arzneimittel Truvada © Statista / Screenshot: DocCheck Niederländische Forscher zeigten zwar, dass sich die PrEP aus gesundheitsökonomischem Blickwinkel lohnt. Auch Kollegen aus Großbritannien bestätigten ihr Ergebnis. Trotzdem entschlossen sich weder gesetzliche noch private Krankenversicherungen, das Präparat zu bezahlen. Und Gilead saß hinsichtlich der Preisgestaltung am längeren Hebel. Zu hohen Ausgaben kommt es so oder so: In Deutschland summieren sich alle Kosten durch HIV auf 278 Millionen Euro pro Jahr (Stand 2015), berichtete das Statistische Bundesamt vor wenigen Tagen. Allerdings fiel dieses Jahr der Patentschutz für Truvada®. Seit Sommer 2017 drängen Generika verschiedenen Firmen auf den deutschen Markt. „Der Ruf in der Presse nach einer günstigen PrEP wurde immer lauter“, erzählt Dr. Inka Krude, Apothekenleiterin aus Bochum. Ein grundlegendes Problem blieb: Nachahmerpräparate waren mit knapp 400 Euro pro Monat immer noch zu teuer, und viele Kunden versorgten sich lieber aus zweifelhaften Quellen online. Krude: „Ich habe selbst mit der Firma TAD als Generikahersteller verhandelt, da ich selbst die Möglichkeit zum Blistern in meiner Apotheke habe.“
Dahinter steckt ein cleverer Schachzug: Deutschlands Apotheker dürfen Endverbrauchern auf verschreibungspflichtige Arzneimittel, und dazu gehört auch Emtricitabin/Tenofovir, keinen Rabatt gewähren. Es gibt jedoch eine Ausnahme: Laut Bundesgerichtshof gilt die Rx-Preisbindung nicht für patientenindividuelle Blister. Bereits Mitte 2015 hatten Richter das vielbeachtete Urteil gesprochen (Az.: I ZR 185/13) und einer Klage der Wettbewerbszentrale nicht stattgegeben. Dieser Passus ermöglichte es Apothekern, bessere Konditionen mit Herstellern auszuhandeln, Präparate patientenindividuell zu verblistern und den Preisvorteil danach an Kunden weiterzugeben. „Seit Oktober bieten wir die PrEP an und sie wird sehr gut angenommen“, erzählt Krude. Der Preis lag zuletzt bei 52 Euro. „Patienten schätzen, dass wir innerhalb von zirka einer Stunde für sie den Blister herstellen können, dass sie aus einer deutschen Apotheke die Medikamente zu einem verhältnismäßig günstigen Preis erhalten und dass sie von uns kompetent beraten werden.“ Der Vorteil liegt auf der Hand: „Mein Team und ich können viele Fragen beantworten, Sicherheit in der Einnahme geben, Ängste nehmen und sind immer für Rückfragen ansprechbar.“ Krudes Fazit: „PrEP ist nun erschwinglich für alle.“
Die Idee geht ursprünglich auf Erik Tenberken, einen Apothekenleiter aus Köln, zurück. Er hat lange mit Hexal verhandelt, um günstigere Konditionen zu erzielen. Ursprünglich wollte er ein Pilotprojekt mit acht Apotheken bundesweit starten. Mittlerweile sind daraus weit über 60 geworden. Tenberken argumentiert nicht nur mit Kosten, sondern auch mit der Arzneimittelsicherheit. Manche Patienten hätten Präparate zur PrEP aus Indien mit Rezepten aus Nepal oder ganz ohne Rezept besorgt. „Da dreht sich mir als Apotheker der Magen um. Es heißt zwar, alles sei geprüft. Aber weiß man das? Und wie das gelagert wurde, weiß ich auch nicht.“ Ihm geht es vor allem darum, richtig zu handeln: „Geld verdienen wir damit nicht. Manchmal muss man auch Dinge mit Herz, Sachverstand und Ethik tun.“ Davon profitiert auch der Berufsstand: „Wir Apotheker vor Ort können nur bestehen, wenn wir Dinge anbieten, die nur Apotheken können.“ Magdalene Linz, Inhaberin aus Hannover, beteiligt sich ebenfalls: „Durch den in intensiven Verhandlungen erzielten günstigen Preis für die PrEP wird die Prophylaxe auch in Deutschland für viele Betroffene bezahlbar und die illegale Einfuhr aus dem Ausland, die Fälschungen Tor und Tür öffnet, ist nicht mehr erforderlich.“
Am Projekt selbst zweifelte niemand. Das mag aber auch daran liegen, dass es sich fast ausschließlich um Apotheken mit Schwerpunkt auf der Versorgung von HIV-Patienten handelt. Tenberkens Modell wird jedoch über kurz oder lang der Vergangenheit angehören. Ratiopharm hat den Preis seines Kombinationspräparats zum 1. Dezember von 556,33 Euro auf 69,90 Euro abgesenkt. Laut Heilmittelwerbegesetz, Paragraph 10, dürfte der Hersteller sein Präparat nur bei Heilberuflern anpreisen. Auf der Website „Sex op PrEP“ wendet sich Ratiopharm an Laien, speziell an Männer, die Sex mit Männern haben (MSM). Zwar wird das eigene Produkt nicht direkt beworben. Trotzdem lässt der Satz „PrEP? Jetzt preiswert auf Rezept in jeder Apotheke“ keine Zweifel an der Zielsetzung aufkommen.
HIV-Schnelltest © varnent, LGBT Free Media Collective / Wikimedia Commons, CC BY SA 3.0 Nachdem das PrEP-Projekt durch Ratiopharms Preispolitik seinem sicheren Ende entgegengeht, stehen für Apotheker neue Herausforderungen an. Zum Hintergrund: Experten von UNAIDS, dem Programm der Vereinten Nationen zu HIV/AIDS, setzen auf das „90-90-90-Ziel“. HIV soll bei mindestens 90 Prozent aller Infizierten diagnostiziert und bei mindestens 90 Prozent therapiert werden. Außerdem wünschen sich Experten eine erfolgreiche Behandlung bei 90 Prozent aller Patienten, so dass kein Virus mehr im Blut nachweisbar ist. Das Problem liegt in Deutschland nicht bei den Arzneistoffen, sondern weit davor. RKI-Zahlen zufolge wissen schätzungsweise 12.700 Menschen nichts von ihrer Infektion. „Das bedeutet, dass wir trotz der vielen, auch anonymen und kostenlosen Angebote für einen HIV-Test, nicht alle Infizierten erreichen“, sagt Professor Dr. Josef Eberle vom Max von Pettenkofer-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München. Auch Professor Dr. Norbert Brockmeyer, Leiter des Zentrums für Sexuelle Gesundheit und Medizin an der Dermatologischen Universitätsklinik Bochum, sagt, viele Menschen hätten eine „Riesenhemmschwelle, in eine Arztpraxis zu gehen“. In Selbsttests für zu Hause sieht er „ein zusätzliches Angebot, um noch mehr Menschen zu finden und dazu zu bewegen, sich testen zu lassen, Menschen, für die das wirklich wichtig ist“. Über Versandapotheken aus anderen Ländern sind entsprechende Sets schon lange erhältlich, natürlich ohne Beratung. Die deutsche Medizinprodukte-Abgabeverordnung (MPAV, Paragraph 3, Absatz 4) verbietet es Apothekern derzeit, HIV-Tests an Privatpersonen zu verkaufen. Viele Ärzte und Apotheker befürworten, die Passagen zu ändern.
„HIV-Schnelltests mit CE-Prüfzeichen, die Blut aus der Fingerkuppe verwenden, sind zwar mit HIV-Labortests der vierten Generation durchaus zu vergleichen“, weiß Eberle. In frühen Phasen der Infektion seien sie jedoch schlechter als ärztliche Untersuchungsmethoden. „Ein Betroffener wiegt sich also womöglich in falscher Sicherheit, und dies zu einem Zeitpunkt, zu dem das Übertragungsrisiko besonders hoch ist“, ergänzt der Experte. Erst drei Monate nach einer möglichen Ansteckung liefere ein Selbsttest ein sicheres Ergebnis. Zudem haben Tests immer eine gewisse Fehlerquote. Und nicht zuletzt können PrEP-Arzneimittel bis zu 72 Stunden nach einem möglichen Kontakt mit HI-Viren das Infektionsrisiko senken. „Wichtig ist deshalb die qualifizierte Beratung in der Abgabestelle“, so Robin Rüsenberg von der Deutschen Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter (dagnä). „Das können Apotheken, aber etwa auch Aidshilfen sein.“