Wenn wir von Schock sprechen, weiß jeder Mediziner, was gemeint ist – eigentlich. Denn beim spinalen Schock ist der Begriff ziemlich irreführend. Hier kommt ein Refresher.
Hämorrhagischer Schock, distributiver Schock, anaphylaktischer Schock, neurogener Schock, obstruktiver Schock, spinaler Schock, hypovolämer Schock, kardiogener Schock, septischer Schock. Die vier Oberbegriffe (fett markiert) und die spezifischeren Beschreibungen für verschiedene Ätiologien des Schocks sind sicher allen in der Notfallmedizin Versierten bekannt. Doch CAVE, wie der Professor zu rufen pflegt – ein Begriff hat sich eingeschlichen, der gar kein echter Schock ist!
Schock ist im Allgemeinen als ein Missverhältnis aus Sauerstoffangebot und -nachfrage auf der zellulären Ebene beschrieben. Zwar hat der Schock vielleicht eine gemeinsame pathophysiologische Endstrecke (SHINE), doch die verschiedenen Ursachen zu kennen, ist wichtig, um die korrekte Therapie einzuleiten. Einer der Begriffe oben ist leider irreführend: Der spinale Schock hat nämlich nichts mit der Hämodynamik zu tun und ist auch keine Unterform des neurogenen Schocks.
Nach einem Einsatz mit Wirbelsäulentrauma folgte ein informelles Nachgespräch mit einem geschätzten Kollegen. Dabei habe ich den Begriff spinaler Schock als Synonym zum neurogenem Schock verwendet. Das ist falsch, wie ich lernte – ein guter Anlass, sich da mal einzulesen.
Schon 1841 hat Marshall Hall den Begriff Spinal Shock verwendet, um ein Phänomen zu beschreiben, bei dem Frösche, denen das Rückenmark durchtrennt wurde, keinerlei Reflexe mehr in den Extremitäten aufzeigten. Die Reflexe kamen im Verlauf langsam wieder. Das Erlöschen von Reflexen nach einer Verletzung des Rückenmarks (engl. Spinal Cord Injury) ist also der spinale Schock. Dass dieser Begriff irreführend ist, wird auch immer wieder kritisiert. Gleichwohl hat er sich dermaßen etabliert, dass eine Veränderung unwahrscheinlich erscheint. Patienten mit einer Rückenmarksverletzung und Areflexie haben einen spinalen Schock. Das hat mit der Hämodynamik oder mit dem neurogenen Schock nichts zu tun (obwohl die Verletzung natürlich auch zusätzlich zum neurogenen Schock führen kann, s. u.).
Es handelt sich also um eine sofortige Areflexie und Plegie nach Rückenmarksverletzung (oder sogar ohne nachweisbare Verletzung), mit langsamem Wiedererlangen von Reflexen in der Folge. Insgesamt ist man sich nicht einig, ob der Zustand des spinalen Schocks wenige Minuten bis Stunden dauert, oder ob die Pathologien noch deutlich länger dem Syndrom zuzuweisen sind. Es scheinen aber die Stimmen zuzunehmen, die sich für eine längerfristige Zeitachse aussprechen. In einer Übersichtsarbeit wurde 2004 die Evidenz zum spinalen Schock und dem zeitlichen Verlauf zusammengefasst und ein Vier-Stufen-Modell vorgeschlagen:
1. Areflexie: Unfallzeitpunkt bis ein Tag danach.
2. Wiederkehr der Reflexe: Ein bis drei Tage nach Unfall.
3. Hyperreflexie: Ein bis vier Wochen nach Unfall.
4. späte Hyperreflexie: Ein bis 12 Monate nach Unfall.
Die pathophysiologischen Erklärungen übersteigen meine Expertise, in sehr einfach zusammengefasst:
Als Commotio spinalis wird das Erlöschen der Reflexe sowie Plegie nach Trauma ohne morphologische Veränderung im CT beschrieben, ein vollständiges Zurückbilden der Symptome wird innerhalb von 72 h vorausgesetzt – eine Diagnose, die also der Rettungsdienst und die Notaufnahme meist nicht treffen werden kann. Als Contusio spinalis wird das Krankheitsbild beschrieben, wenn Areflexie und/oder Plegie länger als 72 h bzw. dauerhaft vorliegen.
Es scheint, dass die Literatur sich nicht ganz einig ist bezüglich der Definitionen und wann welche Diagnose gestellt werden sollte. Für Rettungsdienst und Notaufnahme empfiehlt sich der Begriff spinaler Schock (bzw. der Verdacht auf), um alle Zustände der Querschnittssymptomatik und/oder Areflexie nach Trauma zu beschreiben. Ob es morphologische Veränderungen gibt und ob und wann die Querschnittssymptomatik nachlässt, ist zu diesem Zeitpunkt ja noch unbekannt.
Meiner Ansicht nach ist es vor allem wichtig, zu verstehen, dass eine Areflexie an der Einsatzstelle oder im Schockraum noch keinen prädikativen Wert hat zur Einschätzung der Verletzungsschwere. Distale Sensibilität und Motorik sollten natürlich frühzeitig erfasst und dokumentiert werden. Es bedeutet auch, dass eine Areflexie und Plegie, die an der Einsatzstelle festgestellt wurde, sich zurückbilden kann. So kann es zu unterschiedlichen Untersuchungsbefunden zwischen Rettungsdienst und Notaufnahme kommen – nicht, weil jemand falsch untersucht hat, sondern weil sich die Symptomatik eben verändern kann.
Der neurogene Schock kann bei einer sehr hohen Verletzung des Rückenmarks (Th6 oder höher) entstehen, wobei die sympathische Innervation ausfällt. Der Parasympathikus ist also ungebremst und so kommt es zu einer Vasodilatation und (milder) Bradykardie (und reduziertem Auswurf). Dies ist vorrangig eine Form des distributiven Schocks, welche von Noradrenalin oder ggf. Adrenalin als Therapie profitiert, bis der Kreislauf sich normalisiert. Der neurogene Schock kann auch im Rahmen des schweren Schädel-Hirn-Traumas entstehen, ohne Durchtrennung der sympathischen Nervenfasern. Der Pathomechanismus ist nicht abschließend geklärt. Der neurogene Schock sollte nicht mit dem Cushing-Reflex verwechselt werden (Bradykardie, Hypertonie, pathologische Atemmuster).
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Quellen:
Hall M.: Synopsis of the Diastaltic Nervous System: or The System of the Spinal Marrow, and its Reflex Arcs; as the Nervous Agent in all the Functions of Ingestion and of Egestion in the Animal Oeconomy. Mallett J.: London, 1850.
Atkinson PP, Atkinson JL . Spinal shock. Mayo Clin Proc 1996.
Ditunno, J., Little, J., Tessler, A. et al. Spinal shock revisited: a four-phase model. Spinal Cord , 2004. https://doi.org/10.1038/sj.sc.3101603
https://dgn.org/leitlinie/querschnittlahmung
https://ccforum.biomedcentral.com/articles/10.1186/s13054-017-1605-5 (SHINE)
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