Das BfArM soll bis Ende des Jahres eine Liste von Off-Label-Medikamenten für Long-Covid-Patienten erstellen. Das war ein Ergebnis des gestrigen Round Table mit Karl Lauterbach. Lest hier, welche Wirkstoffe dabei sein könnten.
In Sachen Long/Post Covid bleibt das Bundesgesundheitsministerium am Ball: In Berlin fand jetzt der erste Runde Tisch Long Covid statt. Teilnehmer waren unter anderem Prof. Carmen Scheibenbogen von der Medizinischen Immunologie der Charité Berlin, Prof. Bernhard Schieffer von der Kardiologie am Universitätsklinikum Gießen/Marburg, Prof. Martin Walter von der Psychiatrie der Universitätsklinik Jena, außerdem Patientenvertreter und Repräsentanten von Bundesärztekammer, KBV, Krankenkassen und Robert-Koch-Institut.
Long Covid sei „nichts, was jetzt abgearbeitet werden muss und dann weg ist“, so Minister Karl Lauterbach am Rande der Veranstaltung. „Für die, die nach einem Jahr noch schwere Symptome haben – es sind viele – ist die Prognose einer spontanen Heilung gering.“ Auch sei zu erwarten, dass die Zahl der Fälle weiter zunehmen werde, da Impfungen und Immunität nur zu einem gewissen Grad vor Post Covid schützten, „aber nicht perfekt“.
Diese postulierte Zunahme spiegelt sich bisher allerdings nicht in der Versorgungsforschung wider. In Deutschland zeigt der Monitor Versorgungsforschung des Zentralinstitut (Zi) – wenn überhaupt irgendwas – dann einen Rückgang der Post Covid Diagnosen. Auch in Schweden, das gute Daten hat und dessen gute Post Covid Versorgung Lauterbach anlässlich des Roundtables ausdrücklich hervorhob, nahm die Post-Covid-Quote bisher mit jeder Variante ab, und es gibt bisher auch keinen Hinweis auf eine weitere Zunahme der Gesamtfälle.
Wie auch immer, Handlungsbedarf besteht, da wird niemand widersprechen. Lauterbach will gleich auf mehreren Ebenen handeln. Er versuche, weitere 60 Millionen Euro in den Haushaltsverhandlungen zu bekommen, so der Minister. Ziel sei es, die Forschungsförderung durch Ministerium und G-BA in Höhe von derzeit 40 Millionen doch noch auf die geplanten 100 Millionen Euro aufzustocken.
Lauterbach wies außerdem auf das (nicht Post Covid spezifische) Medizinforschungsgesetz hin, dessen Entwurf in einigen Wochen vorliegen soll, und das die akademische klinische Forschung beschleunigen soll. Dieses Gesetz betrifft Antrags- und Genehmigungsprozesse bis hin zu Ethikkommissionsvoten. Es soll langjährig bekannte Probleme in der klinischen Forschungslandschaft in Deutschland adressieren, muss dazu politisch äußerst dicke Bretter bohren und ist schon deswegen eher längerfristig angelegt.
Und dann ist da die Sache mit dem BfArM. Lauterbach betonte, dass die Forschung zunehmend verstehe, was bei Long und Post Covid pathophysiologisch ablaufe. Die von ihm in der Vergangenheit gern herangezogenen Virusreservoire im Körper sind mittlerweile aus den Äußerungen zu dem Thema verschwunden, die Rede ist jetzt nur noch von Viruspartikeln. Auch diese Partikel sind im Hinblick auf ihre Bedeutung für Post COVID weiterhin nur eine Hypothese. Sehr viel besser belegt sind diverse immunologische Abnormalitäten bei Post Covid, etwa im Bereich der T-Zellaktivierung.
Das alles ist Gegenstand durchaus agiler Forschung, aber es hat bisher noch nicht zu Therapien geführt, die den üblichen Anforderungen an Effektivitätsnachweise standhalten. Es ist viel von Personalisierung die Rede, aber wie das so ist mit biomarkerbasierten Therapien, es braucht erstmal Biomarker. Dass es noch keine Therapien gebe, betonte einerseits auch Lauterbach. Gleichzeitig sagte er aber mehr oder weniger im selben Atemzug, dass „wir viele Medikamente [haben], von denen wir wissen, dass sie für Long Covid wirken.“ Die würden aber in Deutschland nicht eingesetzt.
Eindampfen lässt sich dieser offensichtliche Widerspruch dahingehend, dass es Medikamente gibt, die möglicherweise wirken bzw. von denen Betroffene berichten, dass sie manchmal wirken, für die es aber derzeit keine hochwertige Evidenz und keine Zulassungen gibt. Hier will Lauterbach ansetzen: Er hat das BfArM beauftragt, eine Kommission für den Off-Label-Use Long Covid zu gründen mit dem Ziel, „bis Ende des Jahres“ eine Liste möglicher Off-Label-Medikamente zu erhalten, die dann – das scheint die Idee zu sein – ohne den üblichen G-BA Prozess in die Erstattung kommen sollen.
Dass das hinsichtlich der Erstattungsmechaniken im deutschen Gesundheitswesen nicht ganz unproblematisch ist, ist offensichtlich. Off-Label-Use ist grundsätzlich nichts Ungewöhnliches, er ist möglich und Off-Label-Medikamente sind auch nicht per se von der Erstattung ausgeschlossen. Es wird Ärzten nur etwas mühsam gemacht. Man könnte argumentieren, dass mit einer Post Covid spezifischen Off-Label-Liste des BfArM eine Patientengruppe gezielt bevorzugt wird, während gleichzeitig die Off-Label-Problematik in vielen anderen Bereichen nicht adressiert wird. Man könnte auch argumentieren, dass damit ein aus Sicht der evidenzbasierten Medizin etwas suboptimaler Präzedenzfall geschaffen wird, auf Druck einer Patientengruppe mit besonders hohem Leidensdruck.
Umgekehrt gibt es viele Betroffenen, die sich im Versorgungssystem weiterhin verloren fühlen und die Schwierigkeiten haben, an Medikamente zu kommen. Wer nach COVID ein posturales Tachkardiesyndrom (POTS) hat, wird u.U. vom Hausarzt zum Kardiologen zum Neurologen und wieder zurückgeschickt. Patienten mit Fatigue nach COVID kann es ähnlich gehen. Insbesondere nicht maximal betroffene Menschen haben Schwierigkeiten, denn die bekommen in den Long COVID Ambulanzen regelmäßig keinen Termin.
Die Frage ist, ob eine BfArM-Liste daran etwas ändert. Was könnte denn draufstehen auf so einer Liste? Eine Anfang des Jahres publizierte Übersichtsarbeit zu Post Covid Studien fand in einem Konvolut von über 17.000 Publikationen gerade einmal 76 für eine Auswertung geeignete Pharmakotherapie-Studien mit insgesamt 61 Wirkstoffen. Am häufigsten untersucht wurden zu diesem Zeitpunkt Colchicin, die beiden antifibrotischen Tyrosinkinase-Inhibitoren Nintedanib und Pirfenidon, außerdem Ivermectin und Treamid, ein (nicht zugelassener) Komplexbildner. Andere Studien untersuchen Substanzen wie Montelukast, diverse Statine und unterschiedliche Kortikosteroide.
Daneben gibt es syndromspezifische Übersichtsarbeiten, etwa dieser kürzlich von Carmen Scheibenbogen und Team publizierte Review, der sich auf ME/CFS fokussiert. Hier werden für eine symptomorientierte Behandlung u. a. Antihistaminika der ersten Generation, Melatonin sowie Antidepressiva wie Trimipramin und Mirtazapin genannt, außerdem das atypische Neuroleptikum Aripiprazol, Naltrexon, Ginseng und Minocyclin. An Schmerztherapien werden Ibuprofen, Paracetamol, Metamizol und Pregabalin erwähnt. Im akuten ME/CFS Schub, sprich der post-exertionellen Malaise (PEM), wird Lorazepam für maximal drei Tage vorgeschlagen. Beim posturalem Tachykardie-Syndrom (POTS) schließlich wird neben Erhöhung von Trinkmenge und Salzzufuhr das bradykardisierende Ivabradin als Option genannt, außerdem Pyridostigmin und erneut Glukokortikoide.
All das sind symptomatische Therapien und sie können im Rahmen individueller Heilversuche heute schon eingesetzt werden. Gut begründet werden sie auch erstattet – die Krankenkassen haben da letztlich keine Handhabe. Die Frage ist eher, ob eine sozusagen offizielle BfArM-Liste die offensichtlich intendierten, häufigeren Verordnungen nach sich zieht, oder ob es nicht zielführender wäre, auf Ebene der jeweiligen Fachgesellschaften syndrombasiert Empfehlungen zu erarbeiten. Das würde einen etwas breiteren Expertenkreis einbeziehen und es würden dann möglicherweise Empfehlungen entstehen, die nicht so sehr als ein „gesundheitspolitisches Hineinregieren“ in die Versorgung empfunden werden wie eine vom Minister bei einer abhängigen Behörde bestellte Liste.
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