„Reiß dich zusammen, beruhig dich und sei mal nicht so empfindlich!“ Das bekommen Menschen mit Hochsensibilität öfter zu hören. Erfahrt hier, welche Tipps ihr euren Patienten mitgeben könnt, um ihnen den Alltag zu erleichtern.
Das Surren der Dunstabzugshaube oder der Presslufthammer der Baustelle nebenan können sensorische Albträume sein. Erst wenn sie endlich verstummen, merkt man, wie irritierend laute Geräusche sein können und in welchem Maße sie das klare Denken beeinflussen. Es gibt aber Menschen, die hiervon mehr beeinträchtigt sind als andere. Hochsensibilität ist ein Thema, dass aktuell auch in den Medien auf immer größeres Interesse trifft. Die Forschung zu diesem Persönlichkeitsmerkmal steckt aber noch in den Kinderschuhen und auch viele Psychologen und Ärzte sind noch nicht ausreichend informiert.
Ähnlich wie bei Neurotizismus handelt es sich bei der Hochsensibilität um eine Persönlichkeitseigenschaft – nicht um eine psychologische Störung. Personen mit Hochsensibilität (engl. Sensory Processing Sensitivity; SPS) verarbeiten ihre Umwelt intensiver als nicht-sensible Menschen.
Das Konzept der SPS wurde erstmalig von Elaine Aron, einer US-Amerikanischen Psychologin geprägt. Sie erarbeitete 1997 durch Gespräche mit Betroffenen Wesenszüge, die hochsensible Menschen ausmachen und beschrieb erstmals einen Phänotyp Mensch mit einer erhöhten Irritabilität, die aus der tieferen Verarbeitung von Sinneseindrücken herrührt. Das unterstreicht Aron in ihrer Ausarbeitung besonders: Die Sinneswahrnehmung ist keine andere, die Eindrücke werden bloß tiefer verarbeitet. Der Phänotyp hat eine erhöhte emotionale Sensibilität und ein größeres Bewusstsein für sein Umfeld. Auch schon im Kindesalter, wie Aron beschreibt. Sie notierte, dass ein signifikanter Teil der Befragten negatives in der Kindheit erlebt hatte oder generell eine schwere Kindheit hatte, was mit der Hochsensibilität zusammenzuhängen schien. Der heutige Stand der Forschung beschreibt viel mehr, dass die Hochsensibilität schon in der Kindheit besteht, da es sich um einen Wesenszug handelt. Dieser könnte die Entwicklung von Kindern beeinflussen.
Ihre Erkenntnisse aus den Gesprächen nutzte Elaine Aron weiterhin, um einen Fragebogen zur Einschätzung von Hochsensibilität zu erstellen. Dieser sollte als erste Methode der Selbsteinschätzung von Patienten dienen, um diese dann in hochsensibel und nicht-hochsensibel zu unterteilen.
Im „Highly-Sensitive Person Scale“-Fragebogen sollen Aussagen, die zum Teil sehr alltagsbezogen sind, als zutreffend oder nicht-zutreffend eingeordnet werden, wie z. B. „Ich fühle mich schnell überwältigt von Dingen wie grellen Lichtern, starken Gerüchen, rauen Stoffen oder Einsatzwagen mit Martinshorn in der Nähe.“ Auch wenn Anwendungsbezogen, ist er nicht mehr ganz auf dem neusten Stand, wie uns Prof. Corina Greven vom Radboud University Medical Center am niederländischen Donders Institute for Brain Cognition and Behavior mitteilte: „Die Forschung hat sich seitdem weiterentwickelt. Der Fragebogen von Elaine Aron wird derzeit überarbeitet, um den aktuellen Forschungserkenntnissen gerecht zu werden.“ Greven bezeichnet Fragebögen wie den von Elaine Aron aber als etablierte Methode zur Einschätzung der Ausprägung des Persönlichkeitsmerkmals.
Seitdem hat sich in der Hochsensibilitätsforschung einiges getan. Auch wenn das Forschungsgebiet noch ein recht junges ist, gibt es viele neue Erkenntnisse und Theorien zu diesem Thema.
Es gibt aber nicht nur Befürworter des Konzepts der Hochsensibilität. Kritiker sagen, dass die SPS mit den Persönlichkeiten nach den „Big five“ erklärbar ist, es sich hierbei also um eine Kombination dieser handelt. Insbesondere der Neurotizismus wird dabei besonders hervorgehoben, da auch er mit einer gewissen Sensibilität einhergeht.
Es gibt neue Studien, die jedoch versuchen, dies zu entkräften. Eine dieser Studien ermittelte Korrelationen zwischen Hochsensibilität, Neurotizismus und psychischen-, bzw. somatischen Erkrankungen. Zwar fanden sie dabei Überschneidungen, jedoch konnte Neurotizismus die psychischen Erkrankungen nur teilweise erklären. Die Korrelationen zwischen hoher SPS und Burnout, Angststörungen und gesundheitlichen Beschwerden wie Müdigkeit, Rückenschmerz und Kopfschmerz blieben stark, auch wenn für den Faktor Neurotizismus korrigiert wurde.
Das Wichtigste zuerst: Nach aktuellstem Stand der Forschung wird nicht mehr nach hochsensibel und nicht-hochsensibel unterteilt. Heute weiß man nämlich, dass die Persönlichkeitseigenschaft bei jedem unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann – es sich also um ein Spektrum handelt. „Hochsensibilität ist eine Persönlichkeitseigenschaft, die in unterschiedlicher Stärke ausgeprägt sein kann. Die Bandbreite der Hochsensibilität erstreckt sich über eine Normalverteilung. Das bedeutet, dass die meisten Menschen durchschnittliche Ausprägungen aufweisen, während einige wenige niedrigere oder höhere Werte aufweisen“, unterstreicht Prof. Corina Greven.
Die Merkmale von Hochsensiblen können jetzt aber klarer umrissen und definiert werden. Sie haben eine bessere Wahrnehmung ihrer Umwelt und fassen schon feine Veränderungen dieser auf. Das bedeutet aber auch, dass Sinneseindrücke wie Geräusche oder Gerüche schneller als irritierend wahrgenommen werden, was dann auch zu einer Reizüberflutung oder Überforderung führen kann.
Emotionen werden stärker wahrgenommen, sowohl positive als auch negative. Daher haben Hochsensible häufig auch eine erhöhte emotionale Reaktivität – aber auch eine erhöhte Empathie. Nicht nur hohe emotionale, sondern auch kognitive Empathie macht es vielen Hochsensiblen potentiell leichter, sich schnell in Situationen und Gedankenprozesse ihrer Mitmenschen hinein zu versetzen. Und die Liste der positiven Eigenschaften geht noch weiter: „Stärken hochsensibler Personen umfassen beispielsweise die Fähigkeit, Nuancen in der Wahrnehmung zu erfassen sowie erhöhte emotionale und kognitive Empathie“, so Prof. Greven.
Eine große Empathie und Aufmerksamkeit der Umgebung gegenüber kann auch zur Belastung werden. Corina Greven unterstreicht, dass die meisten Hochsensiblen gar keine Therapie benötigen, da die Persönlichkeitseigenschaft nicht zwangsläufig mit psychischen Problemen einhergeht. Eine Anpassung des Lebensstils kann oft schon ausreichend sein. Denn schon kleine Anpassungen im Job, Alltag oder von Angewohnheiten können oft wahre Wunder bewirken. Dennoch: „Hochsensible Personen neigen aufgrund ihrer Empfindlichkeit eher zur Überstimulierung, was das Risiko für Depressionen oder Burnout möglicherweise erhöhen kann.“ Wenn ein Leidensdruck entsteht, würde auch Prof. Greven raten, Hilfe von einem Therapeuten aufzusuchen.
In einer Studie, die Personen mit ausgeprägter SPS befragte, stellten die Wissenschaftler wesentliche Punkte heraus, die im Alltag der Befragten als positiv und hilfreich wahrgenommen wurden:
Fehlen Betroffenen, die unter ihrer starken Hochsensibilität leiden, Strategien und Tools, könnte das möglicherweise auch Konsequenzen für die psychische Gesundheit haben. Wie Corina Greven sagt, gibt es Forschungsergebnisse, die auf Zusammenhänge zwischen Hochsensibilität und zum Beispiel depressiven Symptomen, Stress, Angst, Burnout und somatischen Symptomen hinweisen. Das erarbeiten von passenden Strategien in einer Therapie könnte dann also sehr wichtig sein.
Aber wie sieht eine Therapie aktuell aus? Leiden Personen unter ihrer Hochsensibilität, müssen sie oft lange suchen – denn es gibt noch recht wenige Psychotherapeuten, die sich mit diesem Persönlichkeitsmerkmal beschäftigen. Viele Anbieter von Therapien sind Life-Coaches ohne medizinische oder psychologische Ausbildung. Daher ist die Fortbildung richtiger Ärzte und Psychologen umso wichtiger, damit Betroffene eine Anlaufstelle haben. „Die Fortbildung von Psychologen im Bereich der Hochsensibilität ist essenziell, da dies ein aktuelles Thema ist, das in der Vergangenheit nicht im Psychologiestudium behandelt wurde“, so Greven. Leider gibt es auf dem Gebiet auch heute noch Nachbesserungsbedarf. Noch gibt es keine Leitlinien und auf unsere Anfrage erhielten wir von verschiedenen Universitäten die Antwort, dass Hochsensibilität noch kein Bestandteil des Curriculums sei. Einige Professoren gaben an, hier einen Raum für Fragen der Studenten zu geben oder auch in Seminaren über das Konzept zu diskutieren.
Doch es gibt vereinzelt Universitäten, an denen das Konzept der Hochsensibilität mehr Aufmerksamkeit bekommt, so unterrichtet auch Prof. Greven inzwischen in diesem Thema.
Es bewegt sich also langsam was und die Persönlichkeitseigenschaft Hochsensibilität bekommt eine größere Aufmerksamkeit. Trotzdem ist es weiterhin wichtig, mit Vorurteilen aufzuräumen und hochsensiblen Menschen Gehör zu schenken. Auch wir können viel dazu beitragen, dass unsere Kollegen, Patienten, Kunden oder Freunde ihren Tag besser meistern können, indem wir ein bisschen mehr Empathie in unseren Alltag integrieren.
Bildquelle: Getty images, unsplash